Politik und Plumbing
Die beiden Nobelpreisträger für Wirtschaft Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo bestreiten, dass aus Erkenntnissen der Ökonomie unmittelbar wirtschaftspolitische Schlüsse gezogen werden können. Die moderne Wirtschaftstheorie ist ein Werkzeugkasten, keine
Laufend werden Bücher über Ökonomie, nämlich über die Theorie der Wirtschaft, veröffentlicht. Genereller Tenor: Diese Theorie ist schlecht. Begründung: Das Wirtschaftssystem ist schlecht. Es gibt Ungleichheit und Umweltverschmutzung; es gibt zu wenig Wachstum, wenn es um Entwicklungsländer geht; es gibt zu viel Wachstum, wenn man den Klimawandel im Auge hat und vieles mehr. Also verhindern Ökonomen und Ökonominnen mit ihrer Theorie das Kommen einer guten Welt. Auch in angesehenen Verlagen werden Bücher dieses Inhalts publiziert. Einige werden Bestseller.
Zwei Voraussetzungen liegen diesen Behauptungen zugrunde. Ökonomen treffen die wichtigen politischen Entscheidungen, ist die eine. Die andere: Es gibt nur eine ökonomische Theorie, mir der die Welt der Wirtschaft erfasst wird. Beides ist falsch. Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik werden von Politikern getroffen. Sie lassen sich dabei von ihnen politisch nahestehenden Ökonomen beraten, wobei es eher um die Legitimation von Entscheidungen geht als um deren Planung.
Es stimmt auch nicht, dass es nur eine Wirtschaftstheorie gibt, die innerhalb der Profession als Darstellung der Wirtschaft akzeptiert ist. Fast alle wirtschaftspolitischen Vorstellungen finden unter den führenden Ökonomen und Ökonominnen Befürworter und scharfe Kritiker. Man schaue sich die Liste der Nobelpreisträger und -trägerinnen an – es gibt mittlerweile zwei. Manche unterstützen sehr wirtschaftsliberale Positionen, andere sind sehr kritisch gegenüber der Marktwirtschaft. Wer erwartet, von der Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin eindeutige Anleitungen für die Politik zu erhalten, wird enttäuscht.
Die Ökonomie ist nicht eine Menge von richtigen Aussagen über die existierende Wirtschaft, die für die Planung von Wirtschaftspolitik verwendet werden kann, wie die Erkenntnisse der Physik für den Bau von Maschinen. Sie bietet aber Instrumente, mit denen die Wirkungen konkreter Politik in spezifischen Situationen untersucht werden können. Ein Beispiel: In der Profession sind die Argumente für einen möglichst freien Außenhandel akzeptiertes Wissen. Die entsprechenden Darstellungen stehen in allen Lehrbüchern. Es kann auch gezeigt werden, dass bei Einführung freien Außenhandels die Gewinne der Gewinner größer sind als die Verluste der Verlierer. Aber daraus folgt nicht, dass in jeder Situation freier Außenhandel vorteilhaft ist. Das ist eine derzeit in der Profession sehr umstrittene Frage. Die Wirklichkeit ist komplexer, als sie den einfachen Modellen des Außenhandels mit seinen klaren Theoremen zugrunde liegt.
Die moderne Wirtschaftstheorie ist ein Werkzeugkasten für die Analyse anstehender Probleme. Es geht um gesellschaftliche Fragen der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik, nicht zuletzt um Gerechtigkeit. Dieses Instrumentarium der Ökonomie stützt sich auf Annahmen über menschliches Verhalten, die sehr allgemein gehalten sind. Menschen verfolgen ihre eigenen Interessen und sind dabei recht vernünftig. Sie wollen gut leben und sind in der Lage, Kosten und Nutzen ihrer Aktionen für das eigene Wohl abzuschätzen. Innerhalb der wissenschaftlich arbeitenden Zunft der Ökonomie werden wirtschaftsund gesellschaftspolitische Maßnahmen mit diesem Instrumentarium begründet oder verworfen. Untersucht werden dabei die Wirkungen unterschiedlicher institutioneller Regelungen. Die damit verbundenen Fachdiskussionen sind außerhalb dieser Zunft nur wenigen verständlich. Das ist nicht anders als in anderen Disziplinen. Die Diskussionen um eine gute Politik in Bezug auf die Pandemie zeigen das deutlich.
Die Autoren des vorliegenden Buches wurden 2019 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Abhijit V. Banerjee kommt aus Indien, Esther Duflo aus Frankreich. Beide arbeiten an der Harvard University. Sie lehnen das theoretische System der Ökonomie nicht ab. Sie bestreiten aber, dass aus allgemeinen Erkenntnissen der Ökonomie unmittelbar wirtschaftspolitische Schlüsse gezogen werden können, etwa aus der Einsicht, dass freier Außenhandel Vorteile hat, dass er überall und sofort eingeführt werden soll. Zur Konstruktion einer Maschine genügt auch nicht die fundamentale Erkenntnis der Physik, dass in einem geschlossenen System die
Summe der Energie konstant ist. Wenn aber Ingenieure Maschinen konstruieren, müssen sie diese Erkenntnis berücksichtigen.
Banerjee und Duflo gehen davon aus, dass das marktwirtschaftliche System einen hohen Wohlstand ermöglicht. Das wird nicht theoretisch begründet, aber die Erfahrungen mit den Versuchen der Abschaffung der Marktwirtschaft waren desaströs. Ihre Frage: Warum können nicht alle daran teilhaben? Es geht ihnen dabei nicht um die Ersetzung dieses Systems durch ein anderes, in dem alle Probleme gelöst sein werden, die ökologisch-sozial-gerechte Hochleistungsmaschine. Große Entwicklungspläne, wie sie oft von Staaten, großen Unternehmen und internationalen Organisationen ausgearbeitet werden, sind nicht das Ziel.
Seit vielen Jahren untersuchen sie, was Menschen hindert, produktivere Tätigkeit auszuüben. Warum bearbeiten sie mit viel Aufwand die kleinsten Grundstücke? Warum verwenden sie schlechtes Saatgut, wo es doch besseres gibt? Warum ergreifen junge Menschen Tätigkeiten, die schon ihren Eltern nur Hungerlöhne ermöglichten? In der perfekten Marktwirtschaft sollte es diese Probleme nicht geben. Wenn man vom Ertrag des eigenen Grundstücks nicht leben kann, dann wird man zusätzliche Grundstücke bearbeiten oder die landwirtschaftlichen Tätigkeiten aufgeben. Wem das Kapital dazu fehlt, kann es über Finanzinstitute erhalten. In der perfekten Marktwirtschaft gibt es auch für jede Ausbildung kommerzielle Möglichkeiten der Finanzierung. Offensichtlich sind Marktwirtschaften nicht so perfekt.
Soziale und kulturelle Faktoren sowie die Armut selbst werden oft als Ursachen angeführt. Das ist nicht falsch. Aber für die beiden Autoren ist diese Erkenntnis zu unbestimmt, um daraus Vorschläge für die Politik entwickeln zu können. Sie wollen nicht nur die Schlechtigkeit der Welt beklagen oder Utopien entwerfen. Es geht um umsetzbare Politik. Sie sehen sich als Ingenieure. Sie verwenden den Ausdruck „Plumbing“. Nicht die Erweiterung fundamentaler Erkenntnisse über Marktwirtschaften war Ziel ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Vielmehr werden spezifische Hindernisse für das Engagement in produktiven Tätigkeiten dargestellt. In der Ökonomie spricht man von Marktunvollkommenheiten. Drei Beispiele.
Junge Menschen sollen Tätigkeiten anstreben können, die ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechen. Das ist in den reichen Wirtschaften eine realistische Annahme, auch wenn es dabei erhebliche soziale Differenzen gibt. In der indischen Kastengesellschaft ist diese Bedingung in viel geringerem Maß erfüllt. Über viele Generationen hinweg dominieren in vielen Familien die gleichen Tätigkeiten. In großen Teilen der vom Islam geprägten Welt sind berufliche oder gar selbstständig gewerbliche Tätigkeiten für Frauen kaum möglich.
Die banale Tatsache der Endlichkeit des Lebens hat erhebliche Auswirkungen für die Wirkungen von Freihandel und technischem Fortschritt. Während neue technische und wirtschaftliche Gegebenheiten für junge Menschen neue Möglichkeiten eröffnen, werden ältere Arbeitskräfte davon bedroht. Für ein Umlernen, für eine Übersiedlung in eine andere Region ist es oft zu spät.
Ein kleiner Grundbesitz gibt Sicherheiten gegen wirtschaftliche Schwankungen. Er bietet eine Wohnstätte und einen kleinen Ertrag an Nahrungsmittel. Er erschwert aber die Herausbildung größerer Produktionseinheiten für die in der Landwirtschaft Verbleibenden, und er reduziert die Mobilität in die Städte hinein für diejenigen, die die Landwirtschaft verlassen. Eine Garantie eines minimalen Einkommens erleichtert die Akzeptanz der Risiken. Einige Gliedstaaten Indiens bieten Arbeitsmöglichkeiten an, die zumindest das Hungern verhindern.
Zu diesen und ähnlichen Fragen führen die Autoren Untersuchungen aus unterschiedlichen Regionen der Welt an. Viele haben sie selbst gemacht oder für Dissertationen angeregt. Oft handelt es sich um Ergebnisse aus Feldexperimenten. In solchen Experimenten werden aufgrund einer Vermutung über die Vorteilhaftigkeit einer spezifischen Politik entsprechende Maßnahmen für eine kleine Gruppe eingeführt, etwa eine Unterstützung für bestimmte Aktionen. Das Ergebnis wird verglichen mit den Handlungen von ähnlichen Personen, die diese Unterstützung nicht bekommen haben. Solche Verfahren sind in der Ökonomie heute weit verbreitet. Sie ermöglichen die Einbeziehung von spezifischen Mustern menschlichen Verhaltens in die ökonomische Analyse und damit ein Abgehen vom traditionellen Rationalitätspostulat der Ökonomie.
Zentrale Fragen der Wirtschaftspolitik werden behandelt. Migration, Wirtschaftswachstum, Umwelt, Klimawandel, Verlust von Arbeitsplätzen durch technischen Wandel und Außenhandel. Das Schwergewicht und die Sichtweise liegen auf der Entwicklung armer Ökonomien. Das entspricht dem Arbeitsgebiet der Autoren. Migrationen werden als regionale Verschiebungen wirtschaftlicher Tätigkeiten infolge von Modernisierungen gesehen. Ein Großteil der Wanderungen findet innerhalb eines Staates statt. Kriege und Katastrophen können Migrationen beschleunigen, aber auch bei friedlicher Entwicklung wandern Menschen aus Regionen mit niedrigen Einkommen in solche mit höheren.
Die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum wird betont. Das wird manchen bei uns sauer aufstoßen. Banerjee und Duflo sind aber kritisch gegenüber der in reichen Ländern verbreiteten Einstellung, dass die Wirtschaften der armen Staaten nicht wachsen sollen. Es hieße die Armut dieser Staaten zu verewigen. Probleme der Umwelt und des Klimawandels werden von ihnen dabei ernst genommen. Es muss gelingen, die beiden Ziele zu verbinden. Das ist nicht einfach. Rezepte werden nicht angeboten. Die Autoren wissen viel, aber sie wissen auch, bei welchem Thema sie wenig Kompetenz haben.
Man erfährt beim Lesen dieses Buches, dass die positiven Aspekte von Marktwirtschaften nicht primär auf der Verringerung staatlicher Aktivitäten beruhen, sondern darauf, dass die Möglichkeiten erhöht werden, sich an der Produktion von Gütern und Leistungen zu beteiligen. Das ist im Grunde genommen trivial. Das Neue in der Ökonomie daran ist, dass es hier um die Bedingungen geht, die Möglichkeiten einer Marktwirtschaft auch nützen zu können. Es geht um die Voraussetzungen, einen Beruf zu ergreifen, eine gewerbliche Tätigkeit zu beginnen, eine modernere Technologie in der Produktion zu verwenden. Mit den Methoden der Ökonomie können jeweils sehr konkrete Analysen von geplanten Maßnahmen gemacht werden. Die Ergebnisse sind regions- und kulturspezifisch. Eben das Plumbing einer Hoffnung. Das Buch wurde vor der Pandemie verfasst. Sie hat seine Bedeutung erhöht.
Abhijit V. Banerjee, Esther Duflo Gute Ökonomie für harte Zeiten
Migration ist eine Folge von Verschiebungen wirtschaftlicher Tätigkeiten. Ein Großteil findet innerhalb eines Staates statt.
Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Heike Schlatterer und Thorsten Schmidt. 554 S., geb., € 26,80 (Penguin Verlag, München)