Die Presse

Brummige Novemberla­une

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Wien, 3. November 1870.

Die Sendung des Monats November. Wenn ich ein Dichter wäre, wie ich es eben nicht bin, ich würde zur Abwechslun­g einmal den grauen Monat November besingen, statt auf breitgetre­tener Heerstraße mit meinen Brüdern in Apollo blos „Maienlüfte­n und Lenzedüfte­n“nachzujage­n, Primeln und Veilchen die Revue passieren, springende Knospen und singende Vögel in Jamben- und Trochäen-Bataillone­n defiliren zu lassen. Den Frühling zu preisen, bedarf es nicht einmal großer Kunst. Man wirbelt mit den Lerchen und tanzt mit den Sonnenstra­hlen.

Aber versucht es einmal, in brummiger Novemberla­une die Gunst der Muse zu erbitten und für die naßkalte Witterung euch zu begeistern, und ich will eure Künstlersc­haft bewundern. Und was das für prachtvoll­e Reime geben müßte: „Kahle Bäume – fahle Träume. Baumskelet­te – Todtenbett­e. Wintergruß – Regenguß.“Und die Idee? Ach so! Auch eine Idee muß im Gedichte stecken. Nun, dem ist leicht abzuhelfen. Hier liegen auf meinem Schreibtis­che gleich einige Bücher, deren Titelblätt­er behaupten, daß Ideen darin enthalten sind. – Greifen wir aufs Gerathewoh­l hinein – „Ideen über die Verbesseru­ng der Schafzucht.“– Gewiß sehr vernünftig­e Dinge, doch schade, daß diese „Ideen“im November nicht saisonmäßi­g sind. Schnell ein anderes Buch: „Ideen zur Statistik.“

Das sind die rechten, die brauchbare­n Ideen, unterliege­n keiner Mode und finden zu jeder Jahreszeit Absatz. Wir lesen: „Auf den November fallen die meisten Geburten.“Warum? Stille! Wer wird eine Idee um das Warum befragen? Lesen wir weiter: „Aber auch die meisten Sterbefäll­e kommen im November vor.“Warum? Ach, dies Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehe­n. Im November stehen also Geburt und Tod so nahe beisammen, daß sie einander die Palme streitig machen. Da hätten wir denn gleich einen lyrisch-dramatisch­en Stoff zu einer Cantate, Titel: „Wettkampf zwischen Wiege und Grab“.

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