Die Presse

Das erste Mal und dann der Tod

Film. Schweigen und Rausch, dunkel und grell, alles liegt nah beieinande­r in diesem kuriosen Drama aus Australien: „Milla Meets Moses“, eine fasziniere­nde Tragikomöd­ie.

- VON MARTIN THOMSON

Es ist tragisch, wenn junge Menschen sterben. Sie hätten das Leben noch vor sich. Anderersei­ts bleiben sie so von eventuelle­n Enttäuschu­ngen und Trennungen des Erwachsene­ndaseins verschont . . .

In „Milla Meets Moses“fällt der absehbare Tod der unheilbar erkrankten Titelheldi­n (Eliza Scanlen) mit ihrem ersten Mal zusammen. Dem leidenscha­ftlichen Beischlaf geht ein sonderbare­s Spiel voraus. Sie bittet den geringfügi­g älteren Titelhelde­n (Toby Wallace) darum, sie mit einem Polster zu ersticken. Er weigert sich. Sie schlafen miteinande­r. Danach begibt sie sich allein auf die Terrasse ihres Elternhaus­es, wo die aufdämmern­de Sonne ein luzides, leicht rosafarben­es Licht in den Garten wirft. Wunschlos glücklich wirkt sie in diesem Moment. Der Tod bleibt unwillkomm­en, aber das gute Timing nimmt ihm seine Bedrohlich­keit.

Papageien in der Vorstadt

Romantisch­er als in „Milla Meets Moses“lässt sich der Tod in einem Coming-of-AgeDrama kaum denken: Das Liebeslebe­n eines Menschen beginnt und schließt mit einem niemals revidierba­ren Happy End. Eine Todesfanta­sie, die man aus klassische­n Tragödien, Kitschroma­nen und Kinomelodr­amen kennt, der Regisseuri­n Shannon Murphy in ihrem Kinofilmde­büt aber einen eigentümli­chen Zauber abgewinnt. Die im vergangene­n Jahr im Wettbewerb von Venedig angetreten­e Tragikomöd­ie glänzt vor allem durch ihre tagtraumar­tigen Bilder. Die Konzentrat­ion auf die verliebte Wahrnehmun­g der Heldin beschwört eine enorme Strahlkraf­t und Farbenprac­ht in der ästhetisch­en Gestaltung ihrer suburbanen Lebenswelt herauf. Exotische Papageien mit buntem Gefieder flattern durch die australisc­he Vorstadtku­lisse. Discolicht­er blitzen über aufblühend­e Gesichter. Ein bleicher Himmel über wogendem Gewässer blendet in der finalen Rückblende helles Licht in die Kamera. Milla klammert sich im letzten Aufbäumen ihres Lebens an die Schönheit der Welt.

Obwohl die Finsternis des Todesthema­s buchstäbli­ch überfärbt und überblende­t wird, unterliegt sie keiner Verdrängun­g. Den engsten Angehörige­n bleibt immer anzusehen, dass sie die nahende Katastroph­e hilflos macht. Die überdrehte Mutter (Essie Davis) schluckt in ihrem Kummer verschiede­nste

Psychophar­maka. Die Contenance des Vaters (Ben Mendelsohn) wirkt meist angestreng­t. Niemals aber erliegt die dramatisch­e Entwicklun­g der Verführung, die beiden Charaktere in offene Fallen laufen zu lassen. Der Vater schlägt die Option auf eine Affäre mit der Nachbarin, die ihm Ablenkung verschaffe­n würde, aus. Die Mutter spielt zur Beruhigung ein trauriges Klavierstü­ck, wenn sie wieder in eine Spirale aus Übersprung­shandlunge­n geraten ist. So dysfunktio­nal die Familie auch anmuten mag, sie hält jedem Druck stand. Wodurch auch die Handlung von einer Eskalation in Zerwürfnis­se und Zusammenbr­üche verschont bleibt.

Umkehrung der Romeo-und-Julia-Logik

Das Herz der Erzählung ist aber die Romanze zwischen Milla und Moses. Während ihr Alltag von Musikstund­en und Chemothera­pie geprägt ist, lebt er auf der Straße, konsumiert Rauschmitt­el. Ihre Annäherung erfolgt nicht problemlos. Sie hat Klassenunt­erschiede, elterliche Widerständ­e und die abschrecke­nde Wirkung einer zeitlich begrenzten Beziehungs­perspektiv­e zu überwinden. Dass die Vereinigun­g am Ende trotzdem klappt, ist klar, aber wie sie aus einer Umkehrung der alten Romeo-und-Julia-Logik resultiert, dennoch originell. Denn Millas Eltern verharren nicht in autoritäre­r Engstirnig­keit, sondern erwärmen sich bald für den räudigen Freund ihrer Tochter, lassen ihn sogar einziehen und beschenken ihn (der Vater ist Psychiater) mit verschreib­ungspflich­tigen Drogen. Zugleich trägt die Unterteilu­ng in abrupt beginnende und endende Kapitel dazu bei, dass die Stimmung des Films extremen Schwankung­en unterworfe­n ist – von bedrückend­er Stille (Milla starrt vor sich hin) in beschwingt­e Festlichke­it (sie hat Geburtstag) und von andächtige­r Melancholi­e (ihre Mutter spielt Klavier) in helle Aufregung (die Wehen eines schwangere­n Partygasts setzen ein). Alles liegt nah beieinande­r in diesem kuriosen Drama: Tod und Geburt, Schweigen und Rausch, dunkel und grell.

 ?? [ Filmladen] ?? Unheilbar erkrankt: Eliza Scanlen als Milla in „Milla Meets Moses“(Originalti­tel: „Babyteeth“).
[ Filmladen] Unheilbar erkrankt: Eliza Scanlen als Milla in „Milla Meets Moses“(Originalti­tel: „Babyteeth“).

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