Die Neuaufführung des „Great Game“im indopazifischen Raum
Die Rivalität mit dem zunehmend mächtiger werdenden China treibt Indien immer mehr in die Arme der USA.
Als in der Nacht vom 15. zum 16. Juni auf über 4000 Meter Höhe indische und chinesische Soldaten wie im Mittelalter mit Steinen, Eisenstangen und mit Nägeln gespickten Stöcken aufeinander losgingen, 20 Inder und nach gut informierten Quellen bis zu 40 Chinesen bei dem Kampf getötet wurden, rückte das heikle Verhältnis zwischen den asiatischen Giganten vorübergehend in die Schlagzeilen. Tatsächlich geht es nur vordergründig um jahrzehntealte Gebietsstreitereien zwischen zwei Atommächten, sondern um ein geopolitisch explosives Ringen zweier Rivalen, die in einer neuen Weltordnung eine Schlüsselposition einnehmen wollen.
In der „Österreichischen Militärischen Zeitung“(5/2020) analysiert der Südasien-Experte Heinz Nissel die ständig zwischen Rivalität und Partnerschaft schwankenden indisch-chinesischen Beziehungen. China hat Indien in den vergangenen vier Jahrzehnten wirtschaftlich, militärisch und als weltpolitisches Schwergewicht weit hinter sich gelassen. Aber Nissel weist darauf hin, dass Indien die Volksrepublik 2025 als einwohnerstärkstes Land – noch dazu mit einer viel jüngeren Bevölkerung – überholen wird und bis 2029 ökonomisch an Deutschland und Japan vorbeiziehen und zur drittstärksten Wirtschaftsmacht aufrücken wird. Inwiefern die Covid-19-Pandemie und die hindu-nationalistische Politik der jetzigen Regierung in Delhi solche Prognosen über den Haufen werfen werden, ist natürlich nicht absehbar.
Nissel schreibt auch vom tief verwurzelten Gefühl der kulturellen Einzigartigkeit und Überlegenheit, dem Bewusstsein historischer Größe und dem Drang an die Weltspitze, die in beiden Staaten stark ausgeprägt sind. Peking mit seiner aggressiven Außen- und Sicherheitspolitik unter Xi Jinping will den Aufstieg des südasiatischen Konkurrenten bremsen. Das wiederum treibt Indien immer mehr in die Arme der USA. Erst vergangene Woche weilten die USAußen- und Verteidigungsminister, Pompeo und Esper, in Delhi, um sich gemeinsam stärker gegen die chinesischen Expansionsbestrebungen im indopazifischen Raum in Stellung zu bringen. Der ganze Raum ist Schauplatz einer Neuauflage des „Great Game“.
In „Le Monde diplomatique“(10/2020) beschreibt Professor Vaiju Narvane von der indischen Ashoka Universität explizit die Konfrontation der beiden Riesen im Himalaya und kommt zu dem Schluss: „Mit seinen Grenzattacken will China jegliche Ambitionen Indiens, eine regionale Vormachtstellung aufzubauen, im Keim ersticken.“Sie kritisiert gleichzeitig den Autoritarismus und HinduNationalismus der Modi-Regierung und das bewusste Schüren antichinesischer Ressentiments durch die Regierungspartei BJP. Einen veritablen Grenzkrieg hält sie nicht für ausgeschlossen.
P.S.: Es sei noch auf eine Empfehlung hingewiesen, die der scheidende Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Alex Younger, in einem seiner seltenen Interviews gab. Dem US-Nachrichtenmagazin „Time“erklärte Younger auf die Frage, wie sich Bürger besser informieren sollten: „Was mir wirklich Unbehagen bereitet, ist, wenn ich einen Artikel lese und beginne, dem Inhalt heftig zuzustimmen und ich mich über die Tatsache freue, dass der Autor genauso denkt wie ich. Das ist zwar ungemein behaglich, aber was man in so einer Situation tun sollte, ist, nach einem Artikel zu suchen, der genau die gegenteilige Ansicht vertritt. Es hat etwas auf sich, die Echokammer zu vermeiden, sich selbst zu disziplinieren und sich mit beiden Seiten eines Arguments zu befassen.“
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