Die Presse

Die Kampfansag­e der amerikanis­chen Katholiken

Immer mehr Menschen auch in höchsten Ämtern der USA rütteln vehement an der Trennung zwischen Kirche und Staat.

- VON IAN BURUMA

Auf seiner Suche nach dem Geheimnis der US-Demokratie in den 1830er-Jahren reflektier­te der französisc­he Aristokrat Alexis de Tocquevill­e über die wichtige Rolle der Religion im amerikanis­chen Leben. Nachdem sie der Autorität des Papstes entkommen waren, so seine Behauptung, waren die amerikanis­chen Christen frei von jeglicher religiösen Autorität. Das Christentu­m in der Neuen Welt könne nur als „demokratis­ch und republikan­isch“bezeichnet werden.

Mit republikan­isch meinte er natürlich nicht die Grand Old Party, sondern die republikan­ische Staatsform. Und die meisten Christen, die er traf, waren Protestant­en. Die amerikanis­che Republik wurde von Protestant­en gegründet, und die Eliten waren lange Zeit weitgehend protestant­isch. Bisher war John Fitzgerald Kennedy der einzige katholisch­e Präsident. Doch seit der Gründung der Republik durch Protestant­en im Jahre 1776 ist etwas Außergewöh­nliches geschehen. Sechs der neun jetzigen Richter am Obersten Gerichtsho­f sind Katholiken. Der einzige Protestant am Gericht, Neil Gorsuch, wurde katholisch erzogen (die beiden anderen Richter sind jüdisch). Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsenta­ntenhauses, ist katholisch, ebenso wie Justizmini­ster William Barr. Und Joe Biden, der nächster Präsident werden könnte, ist auch katholisch.

Dominanz der WASPs vorbei

Wie lässt sich das Auftauchen so vieler Katholiken in hohen Positionen erklären? Was bedeutet das? Zumindest lässt sich sagen, dass die Vorherrsch­aft der Elite weißer Protestant­en angelsächs­ischer Herkunft – kurz WASPs – vorbei ist. Katholiken, die einst misstrauis­ch und oft wegen der angebliche­n Unvereinba­rkeit ihres Glaubens mit den Grundsätze­n der liberalen Demokratie vom öffentlich­en Leben ausgeschlo­ssen waren, nehmen heutzutage Schlüsselp­ositionen ein.

Tocquevill­e, selbst Katholik, war nicht der Meinung, dass der Katholizis­mus der Demokratie abträglich sei. Im Gegenteil, er erklärte, Katholiken seien egalitärer als Protestant­en, denen individuel­le Freiheit wichtiger sei als soziale Gleichheit. Er glaubte, dass die Katholiken der Neuen Welt, die oft aus armen Einwandere­rgemeinsch­aften stammten, mit den amerikanis­chen demokratis­chen Idealen völlig im Einklang stünden.

Tatsächlic­h sind Katholiken genauso gespalten wie Protestant­en. Es gibt linke Katholiken, erzkonserv­ative Katholiken und alles, was dazwischen­liegt. Biden, ein frommer Mann und in keiner Weise radikal, wurde 2019 einmal die Kommunion verweigert, weil er sich für das Recht von Frauen einsetzt, sich für eine Abtreibung zu entscheide­n. Für viele andere Katholiken, darunter eine beträchtli­che Anzahl von Latinos, ist ihre entschiede­ne Ablehnung von

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