Welche Menschenleben sind lebenswert und welche nicht?
Die Frage, wer ein Recht auf Leben hat und welches Leben lebenswert ist, führt zu unmenschlichen Resultaten. Menschenleben sollten nicht verhandelbar sein.
Aktion „T4“, so nannte man die streng geheime Operation. Ab Mai 1940 wurden geistig und körperlich behinderte Menschen von ärztlichen „Gutachtern“bewertet. Wurden sie als nicht „brauchbar“eingestuft, wurden sie vergast. Bald verfuhr man ebenso mit Bewohnern von Pflege- und Altenheimen, um sich die Kosten der Unterbringung zu ersparen. Es handelte sich in der Ideologie der Nationalsozialisten um „lebensunwertes Leben“. Allein in Schloss Hartheim in Oberösterreich wurden mehr als 18.000 Menschen ermordet. Dieser schreckliche Massenmord ist ein Extrembeispiel. Und er ist eine Mahnung.
Unter völlig anderen Voraussetzungen und Bedingungen befinden wir uns heute in einer Situation, in der die Frage nach dem Wert und nach dem lebenswerten Leben im Mittelpunkt steht. Es ist eine paradoxe Situation. Derzeit erleben wir eine Pandemie, in der die Regierungen alles tun, um Menschenleben zu retten. So laufen in vielen Ländern die Staatshaushalte völlig aus dem Ruder.
Statt eines Überschusses werden die Österreicher 2020 ein Minus von 28 Milliarden Euro schultern müssen. Das sind uns die geretteten Menschenleben wert. Wir nehmen dafür eine Wirtschaftskrise und die höchste Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten in Kauf. Wir schätzen den Wert von Menschenleben, ihr Überleben, selbst wenn sie krank und alt sind, für so hoch ein, dass wir massive Eingriffe in unser aller Alltagsleben akzeptieren, auf vieles verzichten und uns einschränken (lassen).
Gleichzeitig gibt es immer mehr Länder, die das „Recht“von Alten, Kranken und psychisch beeinträchtigten Menschen verankern, auf Wunsch getötet zu werden. Auch bei uns soll ein Gericht darüber entscheiden. Befürworter argumentieren, es gehe um eine „autonome“Entscheidung und um die Freiheit des Einzelnen, sein Lebensende selbst zu wählen – um dann doch Dritte als „Helfer“mit in die Verantwortung zu ziehen.
Dahinter steht dennoch die Frage, ob das Leben von unheilbar kranken, dementen, alten oder depressiven Menschen überhaupt als lebenswert einzustufen sei. Und es wird das natürliche Lebensende infrage gestellt.
Auch zu seinem Beginn wird der Wert des Lebens relativiert und an Bedingungen geknüpft. So etwa ist die Pränataldiagnostik, die viel Positives bewirken kann, auch ein Verfahren zur Selektion behinderter Kinder. Werdende Eltern sind vor die Frage gestellt, ob sie das „Risiko“eines behinderten Kindes eingehen wollen oder nicht. Damit verknüpft ist die Frage, ob dieses Leben für ihr Kind und sie selbst lebenswert ist oder nicht.
Betrachtet man die geringe Zahl an Kindern, die mit einer Behinderung wie etwa Trisomie 21 geboren werden, ist das Resultat eindeutig. Dass ein behindertes Kind weniger Lebensrecht hat als ein gesundes, sieht auch der Gesetzgeber so, weil er in Österreich deren Abtreibung bis zur Geburt erlaubt.
Gleichzeitig tut die Medizin alles, um kinderlosen Paaren zu ihrem „Wunschkind“zu verhelfen. Hohe Kosten und Kollateralschäden durch Hormonbehandlungen werden in Kauf genommen. Doch auch dabei wird der Wert des Lebens relativiert, indem etwa bei der künstlichen Befruchtung entstehende „überzählige“Embryonen fristgerecht vernichtet werden.
Wenn man den Wert eines Lebens an Bedingungen und Kriterien knüpft, folgt ein Dilemma dem nächsten. Kriterien können sich rasch ändern und sind letztlich beliebig. Der Druck nimmt zu, wenn sich äußere Umstände ungünstig ändern; etwa, wenn Ressourcen knapp werden: Wird ein Paar, das um den Job fürchtet, ja zum Leben des Ungeborenen sagen? Wird eine Gesellschaft mit Massenarbeitslosigkeit und leeren Staatskassen eine teure Behandlung für 80-Jährige finanzieren?
Stellt eine Gesellschaft den absoluten Wert des Lebens infrage, wird das Menschenleben verhandelbar. Und das kann rasch in eine Richtung führen, die unmenschlich ist.
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Zur Autorin:
Dr. Gudula Walterskirchen ist Historikerin und Publizistin. Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.
Seit 2017 Herausgeberin der „Niederösterreichischen Nachrichten“und der „Burgenländischen Volkszeitung“.
Morgen in „Quergeschrieben“: Andrea Schurian