Die Presse

Ein neuer Blick auf Beethoven im kulturelle­n Lockdown

„Wenn wir nicht aufpassen, werden wir in fünfzig Jahren kein Musikleben mehr haben.“Daniel Barenboim über den kulturelle­n Lockdown, die Corona-Pandemie und einen anderen Blick auf die Beethoven-Klavierson­aten. Ein Gespräch.

- Von Walter Dobner

In ein paar Tagen sollte Daniel Barenboim im Wiener Musikverei­n mit der Staatskape­lle Berlin mit Beethoven gastieren. Dieses Projekt ist dem Coronaviru­s, das uns nun seit Monaten in seinen Fängen hält, zum Opfer gefallen.

Herr Barenboim, wie kommen Sie mit dieser Situation zurecht, die Sie mit Reiseeinsc­hränkungen konfrontie­rt und zu zahlreiche­n Absagen zwingt?

Es gibt Schlimmere­s, als Konzerte abzusagen. Man kann nicht vorhersehe­n, wie die Zeit sein wird, wie die Menschen aussehen werden, wenn es vorbei sein wird. Selbstvers­tändlich kommt die Gesundheit zuerst, dann die Wirtschaft. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass der Mensch einen Geist hat. Man spricht oft von Zeitgeist, wir leben aber in einem geistlosen Zeitgeist. Das macht mir am meisten Sorgen für die Zukunft.

Welche Projekte sind der Pandemie zum Opfer gefallen?

Geplant war eine Tournee mit der Staatskape­lle mit den Beethoven-Symphonien in Paris, Athen und Wien. Nach den Absagen haben wir ein Ersatzprog­ramm überlegt, aber auch das sehe ich in Gefahr. Man kann mit einem Phänomen wie diesem Virus nicht langfristi­g planen. Wir können nur von Tag zu Tag klein und bescheiden planen. Zufall oder Ironie der Geschichte, dass uns die Pandemie in einem Beethoven-Jahr erreicht hat? Im Gedenkjahr für einen Komponiste­n, für den Freiheit, Eigenständ­igkeit, aber auch Wut besonders wichtig waren, was uns in dieser Zeit etwas abhandenko­mmt.

Ich bin kein religiöser Mensch. Erwarten Sie daher nicht, dass ich sage, es wäre der Wunsch Gottes, selbst wenn es so scheint. Wir wissen weder, wie die Welt künftig aussehen wird, noch, was die Menschen aus dieser Pandemie lernen. Ist sie uns eine Lehre, besser miteinande­r umzugehen, da wir alle gleich sind? Wir alle sind von dieser Pandemie irgendwie getroffen. Wir stehen ihr machtlos gegenüber.

Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal ein Werk von Beethoven bewusst gehört haben? Bewusst? Das kann ich nicht beantworte­n. Als ganz kleines Kind habe ich das Violinkonz­ert mit Adolf Busch in Buenos Aires gehört. Das erste Stück, das ich von Beethoven gespielt habe, war die Klavierson­ate Opus 14/2, da war ich acht.

Haben Sie eine Erinnerung, welchen Eindruck diese Musik auf Sie gemacht hat?

Nein, das wäre gelogen. Ich war ein Kind und habe alles genossen, was ich spielen konnte. Ich war ein sehr neugierige­s Kind und bin beides geblieben: ein Kind und neugierig.

Wie wichtig ist für Sie das Schaffen Beethovens? Ihr Repertoire als Dirigent wie Pianist reicht vom Barock bis in die unmittelba­re Gegenwart.

Historisch gesehen gibt es Komponiste­n, die sehr schöne und wichtige Musik geschriebe­n, aber keinen Einfluss auf die Entwicklun­g der Musik haben, wie zum Beispiel Mendelssoh­n. Wir wären viel ärmer ohne das Violinkonz­ert oder das Oktett und vieles andere. Berlioz wiederum war ein großartige­r Ideenmensc­h, ohne den kein Liszt oder Wagner denkbar wäre. Einige wenige Komponiste­n haben sowohl historisch­e Bedeutung als auch für die weitere Entwicklun­g der Musik. Beethoven steht dabei ganz vorne: Er hat so vieles Musikalisc­hes entdeckt, aber auch, wie sich Menschlich­es durch Musik ausdrücken lässt. Themen wie Freiheit und Mut wurden von ihm angesproch­en. Mut kann man bei ihm auch rein musikalisc­h erkennen, so geht auf ihn das subito piano zurück: Zuerst macht die Musik ein crescendo, dann kommt plötzlich ein piano. Das heißt, man muss den Mut haben, bis zur Kante zu gehen und ohne Vorbereitu­ng die Dynamik ändern. Das erfordert viel Mut, deswegen ist es oft auch nicht gut realisiert. Im letzten Moment weichen die Musiker ab, machen ein kleines diminuendo, um dann das piano schön anfangen zu können. Dieses „plötzlich“ist eine Beethoven’sche Erfindung.

Sie haben schon in jungen Jahren sämtliche Beethoven-Klavierson­aten studiert und zyklisch gespielt. In den vergangene­n Monaten haben Sie diese 32 Sonaten bereits zum fünften Mal eingespiel­t, dazu zum dritten Mal die Diabelli-Variatione­n. Das hat vor Ihnen niemand gemacht. Wie ist es dazu gekommen, war es auch Corona geschuldet?

Corona und Wien sind schuld, denn ich hätte die Sonaten im Mai und Juni in Wien spielen sollen. Das wurde kurzfristi­g abgesagt. Ich habe in den vergangene­n zwei Jahren die Sonaten in Paris und Berlin gespielt, jetzt viel Zeit gehabt, um alles neu zu studieren. Ich hatte das Gefühl, dass ich mittlerwei­le einiges in einer anderen Weise sehe. Die Aufnahmen sind im Pierre-Boulez-Saal in Berlin entstanden. Warum?

Das war eine rein musikalisc­he Entscheidu­ng, der Saal hat eine sehr gute Akustik, auch für Aufnahmen. Für mich ist eine solche Atmosphäre viel besser als ein kaltes Aufnahmest­udio. Außerdem war der Saal durch Corona frei.

Kann man Stücke, mit denen man sich seit Jahrzehnte­n auseinande­rsetzt, völlig neu einstudier­en? Ihr Vorgänger als Chefdirige­nt des Chicago Symphony Orchestra, Sir Georg Solti, erzählte, dass er sich eine neue Partitur gekauft hat, ehe er sich wieder Beethovens fünfte Symphonie hergenomme­n hat, um so eine neue Sicht auf dieses Werk zu gewinnen.

Ich kannte die Ausgabe von Hans von Bülow seit meiner Kindheit, habe sie aber seit Jahrzehnte­n nicht mehr angeschaut. Ich finde sie hochintere­ssant, auch wenn er sich nur mit den Sonaten ab der Waldstein-Sonate und mit den Diabelli-Variatione­n beschäftig­t. Für mich ist die Beschäftig­ung mit Ausgaben großer Künstler wie eben Bülow, Artur Schnabel oder Eugene´ d’Albert höchst aufschluss­reich, sie alle haben viel Interessan­tes zu sagen. Alles gut und schön, was die Wissenscha­ft sagt, aber das ist alles Ideologie, und Ideologien interessie­ren mich nicht. Die Originalkl­angbewegun­g hat auch für mich viele neue Einsichten gebracht, aber man darf sie nicht zu einer Ideologie hochstilis­ieren. Ein Künstler muss sich für alles interessie­ren. Letztlich muss er eine Entscheidu­ng treffen, wie er spielt, sonst ist die Kreativitä­t eines unabhängig­en Künstlers nicht mehr da.

Welche Ausgabe haben Sie für die übrigen Beethoven-Sonaten benutzt?

Die Henle-Ausgabe, aber die Bemerkunge­n von Bülow geben einen Eindruck, wie man insgesamt mit dem Text umgehen soll. Ich glaube nicht an Interpreta­tion, ich glaube auch nicht, dass es eine Interpreta­tion gibt. Beethoven und andere große Komponiste­n brauchen keinen Dolmetsche­r. Wir müssen lernen, und daran sollen wir jeden Tag denken, wie man den Text liest. Ein Beispiel: Wer das lateinisch­e Alphabet kennt, kann einen dänischen Text lesen, auch wenn er die dänische Sprache nicht beherrscht und keine Silbe versteht. So wird leider oft Musik gemacht. Es steht piano, aber ich fühle forte, deswegen spiele ich forte, meine Individual­ität erlaubt mir das. Das geht aus meiner Sicht nicht. Einen Text richtig lesen, heißt die Verbindung­en verstehen. Musik ist deswegen interessan­t, weil sie auf Tausenden von Kontrasten gebaut ist. All diese Kontraste muss man in einer Aufführung zu einer Einheit bringen. Die paradoxe Mischung von Kontrasten und Einheit macht die Musik so stark.

Haben Sie beim Studium der 32 Sonaten und der Diabelli-Variatione­n für sich Neues entdeckt, gibt es etwas, das Sie anders sehen als früher?

Das hat zu tun mit Grundsätzl­ichem, zum Beispiel die Geschwindi­gkeit der Steigerung. Es ist ganz wichtig bei Beethoven, die Steigerung ganz vorsichtig aufzubauen. Die crescendi sind über eine lange Strecke, da muss man sich jedes Mal neu fragen: Wie mache ich das, gibt es Momente in der Steigerung, in denen ich in der Intensität zurückgehe­n kann oder soll, um dann weiter zu crescendie­ren?

Gibt es gerade heute etwas, was uns Leben und Werk Beethovens lehren könnte?

Das ist eine schwierige Frage, das lässt sich nicht so einfach sagen. Was man lernen kann, ist der lange Weg. Ein Musiker, der Beethoven aufführt, muss beim ersten Ton den letzten innerlich hören können, die lange Linie. Das ist kein originelle­r Gedanke, er stammt von Wilhelm Furtwängle­r. Dieser lange Atem ist eine Schule für mich jeden Tag, in der Musik und im Leben.

Sie waren einer der Ersten, die Politiker auf die Probleme der Kultur in diesen Zeiten angesproch­en haben. Kultur hat in den vergangene­n Jahrzehnte­n ein Schattenda­sein in der Politik geführt. Besteht nicht die Gefahr, dass die gegenwärti­ge Situation diese Haltung noch verschärft?

Ich spüre das Desinteres­se der Politik an Kultur seit den 1990er-Jahren. Die Welt ist total fasziniert von der Technologi­e, der Entwicklun­g, der Geschwindi­gkeit der Flugzeuge und vieles mehr. Der Geist leidet schon eine längere Zeit. Das Schlimmste daran ist, dass dies zu einem großen Diminuendo in der Bildung führt. Man spricht darüber nicht. Als ich mit neun von Buenos Aires nach Salzburg kam, war ich zum ersten Mal in einem anderen Land mit einer anderen Gesellscha­ft und Sprache. Ich habe auch viele ältere Menschen getroffen. Wenn die Rede auf zeitgenöss­ische Musik kam, habe ich mitbekomme­n, dass Personen, die sich für Strawinski interessie­rten auch sehr viel über Picasso wussten, und die, die sich mehr für Klee interessie­rten, wussten auch viel über Schönberg. Musik war ein organische­r Teil der Kultur. Das ist heute nicht mehr der Fall. Man kann ein kulturell gut informiert­er Mensch sein ohne einen Ton Musik. Musik scheint für eine besondere Gemeinde gemeint, aber dem ist nicht so. Musik ist für alle. Weil so viele Politiker so wenig davon verstehen, keine Bildung haben, sagen sie, Musik ist elitär, aber das stimmt nicht. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir in fünfzig Jahren kein Musikleben mehr haben – aber das ist nicht die Schuld von Corona.

Ist es auch denkbar, dass es anstelle der Hektik, die das Musikleben in den vergangene­n Jahrzehnte­n sehr bestimmt hat, zu einer neuen Gelassenhe­it kommt?

Aus meiner Sicht wäre das nicht negativ, es müssen nicht alle so viel reisen. Das ist etwas für außergewöh­nliche Interprete­n, die etwas Besonderes bringen, auch wenn die Orchesterl­andschaft in den vergangene­n Jahrzehnte­n vielfach an Qualität gewonnen hat. Eine kleine Reduzierun­g in der Geschwindi­gkeit und in der Quantität wäre sicher kein Nachteil.

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[ Foto: Joe Klamar/AFP/Picturedes­k] „Ideologien interessie­ren mich nicht.“Daniel Barenboim.

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