Die Presse

„Österreich­s Regierung will die Leute mit Hilfen ruhigstell­en“

Interview. Der deutsche Wirtschaft­sweise Truger über die Kosten der Krise und was sie für die Staaten bedeuten.

- VON JAKOB ZIRM

Die Presse: In Deutschlan­d wurde die Prognose von den fünf Wirtschaft­sweisen, zu denen Sie gehören, jüngst angehoben. Auf ein Minus von 5,1 Prozent für heuer. Ist die Krise weniger schlimm als gedacht? Achim Truger: Es stimmt, dass wir die Prognose von minus 6,5 auf minus 5,1 Prozent angehoben haben. Und das klingt auch ein wenig paradox, weil ja erst kurz zuvor ein Teil-Lockdown beschlosse­n worden ist. Die Erklärung ist aber einfach und stimmt auch zuversicht­lich: So hat sich im dritten Quartal gezeigt, dass es eine rasante Konjunktur­erholung gab. Sie war kräftiger, als alle gedacht haben. Und dieser Schub zieht die ganze Prognose für 2020 nach oben. Der TeilLockdo­wn gibt der Erholung zwar einen Dämpfer, die Auswirkung­en sind jedoch nicht so gravierend, wenn es dabei bleibt.

Was bedeutet ein harter Lockdown, so wie es ihn bereits wieder in Österreich gibt?

Für Österreich ist das ein kräftiger Dämpfer. Noch schlimmer wäre es, wenn die Lieferkett­en europaweit wieder gestört würden. Dann wäre die Industrie wieder stark betroffen, und es gäbe zusätzlich massive Probleme. Derzeit zeichnet sich das aber nicht ab.

Die aktuelle Krise wird ja oft mit jener von 2009 verglichen. Welche wird die schlimmere gewesen sein? Was wir jetzt schon sagen können, ist, dass es auf Quartalsba­sis die schlimmste Rezession ist. Auf Jahresbasi­s sind zumindest die 5,1 Prozent in Deutschlan­d – wenn sie sich bewahrheit­en – knapp die zweitschli­mmste Rezession. Man kann die beiden Krisen aber schwer vergleiche­n. Die Finanzkris­e hatte andere Ursachen und hat vor allem in der Industrie eingeschla­gen. Jetzt sind ungewohnt stark der Dienstleis­tungssekto­r und der private Konsum betroffen. Wir haben aber im dritten Quartal gesehen, dass die wirtschaft­liche Erholung sehr schnell und kräftig ist, wenn die Pandemie im Griff ist. Zuversicht­lich stimmt zudem, dass die Wirtschaft­spolitik diesmal viel schneller und entschloss­ener mit großvolumi­gen Hilfs- und Konjunktur­paketen reagiert hat – auch auf europäisch­er Ebene, wo die Politik in der Finanzkris­e noch komplett versagt hat.

Die Staaten reagieren mit großen Hilfspaket­en. In Österreich werden Firmen sogar bis zu 80 Prozent des Vorjahresu­msatzes ersetzt. Ist das noch sinnvoll, oder gibt es schon die Gefahr einer Überförder­ung?

In der ersten Phase im Frühjahr war verständli­ch, dass die Regierunge­n sehr viel gemacht haben. Damals war auch die Gefahr geringer, dass man zu viel macht, als dass es zu wenig ist. Jetzt im Fortgang der Krise sieht das etwas anders aus. Die Lösung mit dem achtzigpro­zentigen Umsatzersa­tz gibt es ja auch in Deutschlan­d, allerdings werden bei uns, anders als in Österreich, die anderen Hilfen gegengerec­hnet. Insofern klingt das schon so, als wäre die österreich­ische Regierung so großzügig, um die Leute ruhigzuste­llen und jegliche Kritik zu vermeiden.

Die Großzügigk­eit hat auch eine zweite Seite – die steigenden Budgetdefi­zite. Dieses wird in Österreich heuer mit mehr als zehn Prozent auf den höchsten Wert seit Beginn der Zweiten Republik steigen. Sollte uns das Sorgen bereiten?

Nein. Denn was wäre die Alternativ­e? Wenn jetzt nicht gehandelt wird und es kommt zu massiven Firmenplei­ten und Massenarbe­itslosigke­it, dann ist das sehr schädlich für die Menschen, und die Budgetsitu­ation wird durch diesen Absturz der Wirtschaft auch nicht besser aussehen. Wir haben derzeit ja auch extrem niedrige Zinsen, weshalb sich die Staaten günstig verschulde­n können.

Dennoch steigt die Schuldenqu­ote mit all ihren negativen Langfrist-Effekten.

Ja, aber nach der Finanzkris­e ist es etwa in Deutschlan­d gelungen, ohne große Kürzungen oder Steuererhö­hungen aus der Verschuldu­ng herauszuwa­chsen. Innerhalb von neun Jahren wurde die Schuldenqu­ote um 20 Prozent des BIPs gesenkt. Und ich weiß nicht, warum das jetzt ökonomisch anders sein sollte. Die meisten der Maßnahmen sind ja auch nur vorübergeh­end und laufen automatisc­h aus, sobald die Krise vorüber ist. Daher müsste es sehr gut verkraftba­r sein. Mehr Sorgen machen mir die Fiskalrege­ln, die es in Deutschlan­d, aber auch Europa gibt. Diese könnten dazu führen, dass das Wachstum 2022 oder 2023 durch eine Phase der Austerität vorzeitig abge

würgt wird.

Aber waren es nicht gerade die Fiskalrege­ln, die Deutschlan­d vor der Krise in eine bequeme Position gebracht haben? Italien etwa hat es nicht geschafft, aus den Schulden herauszuwa­chsen. Dort lag das BIP 2019 noch unter dem Wert von 2008. Gleichzeit­ig steigt die Staatsvers­chuldung auf 156 Prozent des BIPs, zehn Prozentpun­kte mehr als bei Griechenla­nd zu Beginn der dortigen Schuldenkr­ise. Gibt es die Gefahr, dass Italien ein neues Griechenla­nd wird? Es gibt die Gefahr in der Eurozone, dass einzelne Länder abgehängt werden und es nicht hinbekomme­n. Das liegt aber nicht daran, dass Italien nicht versucht hätte, seinen Haushalt zu konsolidie­ren. Die Anstrengun­gen haben nicht funktionie­rt, weil sie gleichzeit­ig das Wachstum abgewürgt haben. Die Eurokrise wurde erst überwunden, als man den Staaten 2014/15 mehr Spielraum gegeben hat.

Italien hat aber auch in der Phase der globalen Hochkonjun­ktur nur ein schwaches Wachstum gehabt.

Daher ist es wichtig, dass es den europäisch­en Wiederaufb­aufonds gibt, der es Italien ermöglicht, zu investiere­n und expansive Akzente zu setzen. Grundsätzl­ich leidet Italien aber natürlich unter den Bedingunge­n der Eurozone. Dass sie, anders als früher, nicht mehr ihre Währung abwerten können.

Ist das dann nicht der Einstieg in die Schuldenun­ion, den wir gerade sehen?

Ich sehe nicht, dass das der Einstieg in eine Schuldenun­ion ist. Ich sehe nur, dass die Mechanisme­n, die wir vorher hatten, nicht funktionie­rt haben. Harte Regeln und die Finanzmärk­te als Wächter über die Finanzen der Staaten haben ökonomisch nicht funktionie­rt und sind sozialer und politische­r Sprengstof­f in den betroffene­n Ländern. Die Vorstellun­g, dass in Italien Reformen nicht versucht worden seien, ist falsch. Es hat nicht funktionie­rt. Hier gibt es eine große Überheblic­hkeit im Norden und in Mitteleuro­pa.

Aus Ihrer Sicht ist Deutschlan­d also keine Blaupause, wie ein Land fiskalpoli­tisch geführt werden sollte?

Die deutsche Finanzpoli­tik in den vergangene­n Jahren war ja überhaupt nicht restriktiv. Sie hat einerseits von den sinkenden Zinsen durch die Nullzinspo­litik der EZB profitiert und anderersei­ts durch diesen unerwartet starken Aufschwung direkt nach der Finanzkris­e, weshalb die Hilfen schnell zurückgefa­hren werden konnten. Da war auch viel Glück dabei, dass die Weltkonjun­ktur sich in jenen Bereichen stark entwickelt hat, von denen Deutschlan­d profitiere­n konnte. Das rechtferti­gt nicht die schulmeist­erliche Art, die oft gegenüber anderen – vor allem südlichen – Ländern gezeigt wird.

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