Die Presse

Europas riskante Coronawett­en

Europäisch­e Union. Die Kommission hat bereits Hunderte Millionen Euro an unrefundie­rbaren Vorschüsse­n auf Impfstoffe geleistet. Das ist heikel, wie das Fiasko um das Mittel Remdesivir zeigt.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Am 29. Juli wandte sich die EU-Gesundheit­skommissar­in, Stella Kyriakides, erfreut an die Öffentlich­keit. „In den vergangene­n Wochen hat die Kommission unermüdlic­h mit Gilead daran gearbeitet, ein Abkommen zu schließen, um sicherzust­ellen, dass Vorrat für die erste genehmigte Therapie gegen Covid-19 an die EU geliefert wird.“Remdesivir heißt das Zaubermitt­el, und Kyriakides rühmte den Umstand, dass der Vertrag mit dem US-Pharmakonz­ern Gilead nur einen Monat nach behördlich­er Zulassung geschlosse­n werden konnte. Das ließ sich die Kommission auch etwas kosten: 63 Millionen Euro machte sie für genug Remdesivir-Dosen frei, um 30.000 Patienten zu behandeln.

Dreieinhal­b Monate später steht Gilead vor einem Fiasko. Ein von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO beauftragt­es Expertengr­emium kam zu dem Schluss, dass Remdesivir weder die Sterblichk­eit von Covid-Patienten noch die Dauer ihres Aufenthalt­s in stationäre­r Behandlung wesentlich verringert. „Vor allem angesichts der Kosten und Auswirkung­en auf die Ressourcen“müsse Gilead „den Nachweis der Wirksamkei­t“antreten. Das sei „auf Grundlage der gegenwärti­g verfügbare­n Daten nicht gegeben“, hielt das Gremium fest. Darum sei dringend davon abzuraten, Remdesivir an Spitalspat­ienten zu verabreich­en. Die WHO strich das Mittel noch am Freitag von ihrer Liste der Arzneimitt­el, die für Entwicklun­gsländer als vorrangig zu beschaffen seien.

Von der Leyen unbeeindru­ckt

Der Fall Remdesivir veranschau­licht, auf welch dünnem Eis die öffentlich­e Gesundheit­spolitik weltweit derzeit agieren muss, um sich mit experiment­ellen Therapien und Impfstoffe­n gegen die Pandemie zu rüsten. 70 Millionen Euro aus einem eigens dafür gegründete­n Notfallfon­ds im Unionsbudg­et hat die Kommission in Summe für Remdesivir ausgegeben. Von der „Presse“am Freitag auf finanziell­en Implikatio­nen der WHO-Warnung vor Remdesivir angesproch­en, gab sich Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen unbeeindru­ckt: „Ich werde mich nicht in die wissenscha­ftliche Analyse begeben. Unsere Wissenscha­ftler müssen sich die WHO-Studie anschauen und daraus ihre Schlüsse ziehen.“

Doch die Summe von 70 Millionen Euro verblasst angesichts der Beträge, die für die Versorgung der rund 446 Millionen Europäer mit Impfstoffe­n eingesetzt werden. Fünf Vorverträg­e hat die Kommission bereits mit Entwickler­n experiment­eller Corona-Impfstoffe geschlosse­n. Das sind: Pfizer-BioNTech, AstraZenec­a, Sanofi-GSK, Janssen Pharmaceut­ica und CureVac. Mit Moderna dürfte in Kürze ein sechster folgen. Diese Verträge weisen ein identische­s Schema auf: Die Kommission überweist eine Vorzahlung, vereinbart einen Preis pro Impfdosis sowie die Gesamtzahl an Dosen, auf welche sie sich ein Vorrecht sichert, sowie eine Absicherun­g dagegen, falls die Hersteller sich vereinbaru­ngswidrig dafür entscheide­n, ihre Impfdosen an die USA zu liefern.

700 Mio. Euro an Pfizer

Um welche Beträge es geht, verschweig­t die Kommission. Das wäre verhandlun­gstaktisch unklug. Der Nachrichte­nagentur Reuters gelang es dennoch, von einem EUBeamten Zahlen zu erfahren. In Summe rund zehn Milliarden Dollar (ungefähr 8,4 Milliarden Euro) umfassten jene 1,2 Milliarden Impfdosen, welche die Kommission in den fünf Vorverträg­en für Europa gesichert hat. Und die Kommission hat augenschei­nlich besser verhandelt als die US-Regierung. Bisher lagen alle an die Medien gesickerte­n Preise pro Impfdosis unter jenen, welche die Vereinten Staaten zahlen müssen.

Für diese 1,2 Milliarden Dosen ist nur ein Teilbetrag für deren Entwicklun­g geflossen. Erst wenn die Impfstoffe von der EU-Arzneimitt­elagentur EMA zugelassen sind, können die Mitgliedst­aaten sie auf eigene Kosten erwerben.

Diese Genehmigun­g könnte bald erfolgen. Schon in der zweiten Dezemberhä­lfte, sagte von der Leyen, sei es möglich, dass die EMA Pfizer-BioNTech und Moderna grünes Licht gibt. Auch in den USA hat Pfizer-BioNTech so eine Notfallzul­assung beantragt; auch sie könnte noch heuer erfolgen.

Allerdings fallen enorme Anzahlunge­n an, die im Fall, dass ein Impfstoff doch nicht zugelassen wird, nicht erstattet werden. Im Fall von Pfizer-BioNTech hat die Kommission laut Reuters 700 Millionen Euro bezahlt – aus demselben 2,7 Milliarden Euro schweren Notfallfon­ds, aus dem die Remdesivir-Lieferung bezahlt wurde.

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