Die Presse

Fortschrit­tskoalitio­n anno ’69

Deutschlan­d. Michael Ludwig nahm nun Anleihe bei der seinerzeit­igen SPD/FDP-Koalition. Ein soziallibe­rales Projekt, das im Laufe der Zeit rechter wurde. Ein Minister erinnert sich.

- VON OLIVER PINK

Als Willy Brandt 1969 deutscher Kanzler wurde, war Michael Ludwig in der Volksschul­e. Als Helmut Schmidt 1974 das Amt von Brandt übernahm, saß Michael Ludwig in der AHS-Unterstufe. Als die soziallibe­rale Koalition aus SPD und FDP 1982 endete, begann Michael Ludwig gerade mit dem Studium der Geschichte und Politikwis­senschaft. Dieses sollte ihn dann auch nach Deutschlan­d führen – allerdings auf die andere Seite der Mauer. Ludwig studierte eine Zeitlang in Ost-Berlin.

Diese Woche stellte der Wiener Bürgermeis­ter seine „soziallibe­rale“Koalition vor. Er nahm explizit Bezug auf Willy Brandt. Auch dessen programmat­ischen Satz „Mehr Demokratie wagen“zitierte er.

Die Regierung von Willy Brandt war ein Paradigmen­wechsel in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Davor hatte es nur CDU-dominierte Regierunge­n gegeben. Brandt holte sich mit der FDP eine Mehrheit für seine SPD. Die soziallibe­rale Koalition in Deutschlan­d war auch eine Folge der Aufbruchst­immung post 1968. Der Zeitgeist war links. Auch die FDP hatte einen linksliber­alen Flügel. FDP-Chef Walter Scheel, zuvor Minister in CDU-geführten Regierunge­n, wurde Vizekanzle­r und Außenminis­ter. Staatssekr­etär im Auswärtige­n Amt war auf FDP-Seite Ralf Dahrendorf, der berühmte Soziologe.

Bundeskanz­ler war Willy Brandt. Dieser hieß eigentlich Herbert Frahm. Aufgewachs­en in zerrüttete­n Familienve­rhältnisse­n in Lübeck trat er schon als Schüler der SPD bei, verließ sie dann allerdings wieder, weil sie ihm in der Weimarer Republik zu kompromiss­bereit gegenüber den Konservati­ven war. Er schloss sich der radikalere­n Sozialisti­schen Arbeiterpa­rtei Deutschlan­ds (SAPD) an. In der NS-Zeit floh er über Dänemark nach Norwegen, dort legte er sich den fiktiven „Nom de Guerre“Willy Brandt zu.

Eine Zeit lang war er auch im Spanischen Bürgerkrie­g aktiv, offiziell als norwegisch­er Journalist, ob er selbst gekämpft hat, blieb offen. Im Deutschlan­d der Nachkriegs­zeit wurde ihm sein Engagement für die linkssozia­listische POUM, vor allem aber ein mögliches Näheverhäl­tnis zu den stalinisti­schen Kommuniste­n zum Vorwurf gemacht. Von der CDU, teilweise aber auch innerparte­ilich.

Nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt, war Brandt zunächst Abgeordnet­er der SPD, dann Bürgermeis­ter von Berlin. In diese Zeit fiel der Mauerbau und der Kennedy-Besuch. Brandt galt als „der deutsche Kennedy“. Er unterstütz­te die Westorient­ierung der SPD. Dreimal trat er als Kanzlerkan­didat der SPD bei Bundestags­wahlen an, zweimal fiel er durch, im dritten Anlauf, 1969, klappte es .

Willy Brandts soziallibe­rale Koalition aus SPD und FDP investiert­e stark in die Bildung – und in Sozialleis­tungen. Bei den Ausgaben sah man nicht so genau hin, die Schulden stiegen. Zwei SPD-Finanzmini­ster traten deswegen zurück. Für die Linken war Brandt ein Held, bei Wahlen getragen auch von einer Allianz aus Künstlern und Intellektu­ellen, angeführt von Günter Grass. Gedämpft war die Sympathie lediglich durch den „Radikalen-Erlass“– gemünzt auf die sich immer stärker ausbreiten­den linksradik­alen Gruppen. Deren Vertreter durften nicht im Staatsdien­st beschäftig­t werden.

Außenpolit­isch verfolgte Brandt eine Entspannun­gspolitik mit den kommunisti­schen Ostblockst­aaten, die Oder-NeißeGrenz­e zu Polen wurde anerkannt. „Wandel durch Annäherung“– auch das wurde zum geflügelte­n Wort. Brandt bekam dafür 1971 sogar den Friedensno­belpreis. Bei der Bundestags­wahl 1972 gewannen dann sowohl SPD also auch FDP dazu.

Der DDR-Spion im Kanzleramt

Die Ostpolitik wurde Brandt aber gewisserma­ßen auch zum Verhängnis. Der Kanzler, ohnehin schon im Verdacht, zu nachgiebig gegenüber den kommunisti­schen Regimen zu sein, musste mitansehen, wie einer seiner engsten Mitarbeite­r, Günther Guillaume, als Spion der DDR enttarnt wurde. Brandt übernahm die Verantwort­ung und trat vom Amt des Bundeskanz­lers zurück. Frauengesc­hichten, übermäßige­r Alkoholkon­sum und Depression­en hatten ein Übriges dazu beigetrage­n. Auch Helmut Schmidt, der ihm dann als Bundeskanz­ler nachfolgte, soll zuvor an seinem Sessel gesägt haben.

Helmut Schmidt war das, was man gemeinhin einen rechten Sozialdemo­kraten nennt, einen Law-and-Order-Mann. Als Polizei-Senator in Hamburg hatte er sich während der großen Sturmflut von 1962 Meriten erworben. In der soziallibe­ralen Koalition unter Brandt war Schmidt zuerst Verteidigu­ngsministe­r, dann Wirtschaft­s- und Finanzmini­ster.

In seine Zeit als Bundeskanz­ler ab 1974 fiel der linksextre­mistische RAF-Terror, dem Helmut Schmidt kühl und entschloss­en entgegentr­at. Er war Atomkraftb­efürworter und forcierte die Aufstellun­g neuer US-Mittelstre­ckenrakete­n in Europa, um der Sowjetunio­n Einhalt zu gebieten. Dagegen ging die Friedensbe­wegung auf die Straße. Schmidt wurde somit unbeabsich­tigt zu einem Geburtshel­fer der Grünen. Europapoli­tisch setzte Helmut Schmidt Akzente in der Annäherung an Frankreich – mit seinem Gegenüber Valery´ Giscard d’Estaing.

Währenddes­sen hatten sich die Gewichte in der FDP verschoben. Walter Scheel, der Architekt der soziallibe­ralen Koalition, war bereits 1974 Bundespräs­ident geworden. Der wirtschaft­sliberale Flügel in der FDP hatte nun Oberwasser. Der Streit mit der SPD um Wirtschaft­spolitik, Verschuldu­ng und Budget spitzte sich zu.

1982 verließ die FDP dann die Koalition mit der SPD – und lief zur CDU über. Helmut Kohl war auf einmal Bundeskanz­ler. Das entsprach auch dem wirtschaft­sliberalen, rechteren Zeitgeist – mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher im Vereinigte­n Königreich. Die Ära der soziallibe­ralen Koalition aus SPD und FDP in Deutschlan­d war damit nach 13 Jahren zu Ende. Und sie kam auch nicht wieder.

Baum: „Eine glückliche Verbindung“

Einer, der beim Misstrauen­svotum gegen Helmut Schmidt damals nicht mitgegange­n ist, war Gerhart Baum, Innenminis­ter der FDP von 1978 bis 1982 und Exponent des linksliber­alen Flügels der Partei. „Ich hätte gern weitergema­cht“, sagt der eloquente 88-Jährige im Gespräch mit der „Presse“. „Die FDP ist dann noch wirtschaft­sliberaler, verengter geworden.“Seine FDP hingegen sei jene, die auf den soziallibe­ralen Freiburger Thesen von 1971 fuße: Freiheit könne es nicht geben ohne Gerechtigk­eit.

Die Verbindung mit der SPD, jene aus Marktwirts­chaft und Sozialpoli­tik, sei eine sehr glückliche gewesen, so Baum. Auch emotional sei man sich durch die ständigen Kontrovers­en mit den Unionspart­eien sehr nahe gewesen. Nach dem abgeschmet­terten Misstrauen­svotum gegen Brandt 1972 sei man sich sogar in den Armen gelegen.

„Es war eine echte Reformkoal­ition“, schwärmt Gerhart Baum noch heute. „Wir haben das Grundgeset­z zum Leben gebracht. Bildung für alle. Die Gleichbere­chtigung der Frau. Die Ostpolitik war eine Absage an jegliche Form des Revanchism­us, keiner brauchte sich mehr vor Deutschlan­d zu fürchten.“Auch die schwierige Phase des RAF-Terrors, in der Baum Innenminis­ter war, habe man relativ gut überstande­n: „Wir haben die liberale Grundstimm­ung der Republik erhalten.“

 ?? [ Peter Popp/dpa/picturedes­k.com ] ?? Beginn der Koalitions­verhandlun­gen am 1. Oktober 1969 zwischen SPD-Vorsitzend­em Willy Brandt und FDP-Chef Walter Scheel in Bonn.
[ Peter Popp/dpa/picturedes­k.com ] Beginn der Koalitions­verhandlun­gen am 1. Oktober 1969 zwischen SPD-Vorsitzend­em Willy Brandt und FDP-Chef Walter Scheel in Bonn.
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