Prüfender Blick statt schnellem Klick
Wissenschaftskommunikation. Wiener Forscher erkunden in einem EU-Projekt die Schnittstellen zwischen Medien, Politik, Publikum und Wissenschaften. Wer traut da (noch) wem?
Verschwörungstheorien, die versichern, manch Staatschef sei eine Echse? Kommentare, die behaupten, das Coronavirus sei mit Absicht in die Welt gebracht, um uns anschließend Überwachungschips einzuimpfen? Politikerstimmen, die seriöse Medien als „fake news media“verunglimpfen? Sie alle haben wir in den vergangenen Monaten gehört. Unser öffentlicher Diskurs hat derzeit ein Glaubwürdigkeitsproblem. Kritisches Bewusstsein wäre gerade in der Krise gefragt, der respektvolle Meinungsaustausch von Journalistinnen und Bürgern, von Politikerinnen und Wissenschaftlern. Derzeit interessiert aber häufig nur: Wer steht auf welcher Seite?
Das internationale Projekt „Tresca“will bis 2022 in verschiedenen Studien die Vertrauensbeziehung zwischen Wissenschaften, Politik und Gesellschaft ausloten – und Hinweise darauf erarbeiten, wie sie (wieder) hergestellt werden kann. Ein besonderer Fokus liegt auf audiovisuellen Medieninhalten. Eingebunden sind Partner aus den Niederlanden, Spanien, Österreich, Italien, Großbritannien und Deutschland. Das von der EU finanzierte Projekt startete mit Jahresbeginn, seine Ausrichtung wurde im Frühjahr coronabedingt adaptiert. Die Diskursbedingungen waren auch davor schwierig: Schon da schwappte die Informationsflut über uns, war die Vielfalt elektronischer Medien unüberschaubar und das Publikum in immer kleinere Zielgruppen zerstreut. Unter Corona hat sich die Lage zugespitzt.
Ein Schwerpunkt des österreichischen Tresca-Projektpartners, des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI), zielt auf die Schnittstelle Wissenschaften und Politik, berichten die Sozialwissenschaftler Pamela Bartar und Gabor´ Szüdi. In 29 Interviews mit politischen Entscheidungsträgern zeigte sich: Sie haben die gleichen banalen Probleme wie wir Mediennutzer. „Vor 30 Jahren gab es zu einem neuen Thema einfach Unterlagen, die wurden von allen brav durchgelesen – so funktioniert das heute nicht mehr“, erzählt Szüdi. Auch hier hemmt zu viel Information.
Die EU etwa hat als Reaktion 2015 den „Scientific Advice Mechanism“eingeführt: Statt nur einem einzelnen beraten nun sieben Wissenschaftler verschiedener Disziplinen die EU-Kommissare. Szüdi zufolge gehe es nicht darum, dass einer einen Rat gibt und der andere zuhorcht, nein: „Es geht um einen Dialog.“In einem solchen entstehe außerdem Vertrauen.
Dank Corona bekommen jetzt auch Factchecking-Plattformen mehr Aufmerksamkeit, Forscherinnen und Forscher spielen eine größere Rolle in den Medien. Wird das so bleiben? „Wir denken nicht, dass Politiker dorthin zurückgehen können, woher sie vor der Pandemie gekommen sind“, sagt Szüdi – die befragten Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung sahen das ähnlich.
Es gibt viel zu tun
Im österreichischen Arbeitspaket setzt sich das ZSI auch mit der Frage auseinander, wie sich wissenschaftliche Fachinhalte einem breiten Publikum näherbringen lassen. Über 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen aus ganz Europa wurden dazu befragt. „Für sie liegt der Fokus auf der Peer-toPeer-Kommunikation in Fachjournalen oder Netzwerken“, berichtet Pamela Bartar. Dennoch schreiben in Österreich 79 Prozent der Forscher auch der allgemeinen Vermittlungsarbeit eine große Bedeutung zu; allerdings fehlt es ihnen an Zeit sowie Anreizen, sich für diese Kommunikationsarbeit zu engagieren, so Bartar. Jedenfalls: Das Bewusstsein, dass es hier zu tun gäbe, ist vorhanden.
Denn die Menschen suchen nach einer Ordnung in der Welt, um sie sich zu erklären. Versagen die Wissenschaften in der Kommunikation ihrer Erkenntnisse, wenden sich die Bürgerinnen und Bürger viel eher Verschwörungstheorien zu, schrieb Sara Degli Esposti, wissenschaftliche Direktorin von Tresca, im August in einem Blogeintrag. Auch Social Media trägt dazu bei – etwa, wenn wir unüberlegt einen zweifelhaften WhatsApp-Link aus dem Bekanntenkreis weiterleiten. „Die kritische Perspektive fehlt uns da oft, aber auch sie lässt sich erlernen“, sagt Pamela Bartar.
Online-Workshop am 4. 12.
Wie Bürgerinnen und Bürger sich aktuell gegenüber Falschinformationen verhalten, das möchte das ZSI nun direkt an der Quelle erforschen: In einem partizipativen Online-Workshop mit Fokus auf visualisierte Nachrichten diskutieren die Wissenschaftler mit Interessierten (Freitag, 4. 12., 13:30 Uhr; Anmeldung bis 26. 11. unter https://www.zsi.at/en/object/ news/5689).
„Wir forschen nicht nur, wir entwickeln auch“, sagt Bartar. Die Ergebnisse aus dem Workshop sollen helfen, einen Prototyp zu designen, mit dessen Hilfe Nutzerinnen und Nutzer den Wahrheitsgehalt einer Website prüfen können.