Die Presse

Prüfender Blick statt schnellem Klick

Wissenscha­ftskommuni­kation. Wiener Forscher erkunden in einem EU-Projekt die Schnittste­llen zwischen Medien, Politik, Publikum und Wissenscha­ften. Wer traut da (noch) wem?

- VON PATRICIA MCALLISTER-KÄFER

Verschwöru­ngstheorie­n, die versichern, manch Staatschef sei eine Echse? Kommentare, die behaupten, das Coronaviru­s sei mit Absicht in die Welt gebracht, um uns anschließe­nd Überwachun­gschips einzuimpfe­n? Politikers­timmen, die seriöse Medien als „fake news media“verunglimp­fen? Sie alle haben wir in den vergangene­n Monaten gehört. Unser öffentlich­er Diskurs hat derzeit ein Glaubwürdi­gkeitsprob­lem. Kritisches Bewusstsei­n wäre gerade in der Krise gefragt, der respektvol­le Meinungsau­stausch von Journalist­innen und Bürgern, von Politikeri­nnen und Wissenscha­ftlern. Derzeit interessie­rt aber häufig nur: Wer steht auf welcher Seite?

Das internatio­nale Projekt „Tresca“will bis 2022 in verschiede­nen Studien die Vertrauens­beziehung zwischen Wissenscha­ften, Politik und Gesellscha­ft ausloten – und Hinweise darauf erarbeiten, wie sie (wieder) hergestell­t werden kann. Ein besonderer Fokus liegt auf audiovisue­llen Medieninha­lten. Eingebunde­n sind Partner aus den Niederland­en, Spanien, Österreich, Italien, Großbritan­nien und Deutschlan­d. Das von der EU finanziert­e Projekt startete mit Jahresbegi­nn, seine Ausrichtun­g wurde im Frühjahr coronabedi­ngt adaptiert. Die Diskursbed­ingungen waren auch davor schwierig: Schon da schwappte die Informatio­nsflut über uns, war die Vielfalt elektronis­cher Medien unüberscha­ubar und das Publikum in immer kleinere Zielgruppe­n zerstreut. Unter Corona hat sich die Lage zugespitzt.

Ein Schwerpunk­t des österreich­ischen Tresca-Projektpar­tners, des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI), zielt auf die Schnittste­lle Wissenscha­ften und Politik, berichten die Sozialwiss­enschaftle­r Pamela Bartar und Gabor´ Szüdi. In 29 Interviews mit politische­n Entscheidu­ngsträgern zeigte sich: Sie haben die gleichen banalen Probleme wie wir Mediennutz­er. „Vor 30 Jahren gab es zu einem neuen Thema einfach Unterlagen, die wurden von allen brav durchgeles­en – so funktionie­rt das heute nicht mehr“, erzählt Szüdi. Auch hier hemmt zu viel Informatio­n.

Die EU etwa hat als Reaktion 2015 den „Scientific Advice Mechanism“eingeführt: Statt nur einem einzelnen beraten nun sieben Wissenscha­ftler verschiede­ner Diszipline­n die EU-Kommissare. Szüdi zufolge gehe es nicht darum, dass einer einen Rat gibt und der andere zuhorcht, nein: „Es geht um einen Dialog.“In einem solchen entstehe außerdem Vertrauen.

Dank Corona bekommen jetzt auch Factchecki­ng-Plattforme­n mehr Aufmerksam­keit, Forscherin­nen und Forscher spielen eine größere Rolle in den Medien. Wird das so bleiben? „Wir denken nicht, dass Politiker dorthin zurückgehe­n können, woher sie vor der Pandemie gekommen sind“, sagt Szüdi – die befragten Entscheidu­ngsträger aus Politik und Verwaltung sahen das ähnlich.

Es gibt viel zu tun

Im österreich­ischen Arbeitspak­et setzt sich das ZSI auch mit der Frage auseinande­r, wie sich wissenscha­ftliche Fachinhalt­e einem breiten Publikum näherbring­en lassen. Über 250 Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler unterschie­dlicher Diszipline­n aus ganz Europa wurden dazu befragt. „Für sie liegt der Fokus auf der Peer-toPeer-Kommunikat­ion in Fachjourna­len oder Netzwerken“, berichtet Pamela Bartar. Dennoch schreiben in Österreich 79 Prozent der Forscher auch der allgemeine­n Vermittlun­gsarbeit eine große Bedeutung zu; allerdings fehlt es ihnen an Zeit sowie Anreizen, sich für diese Kommunikat­ionsarbeit zu engagieren, so Bartar. Jedenfalls: Das Bewusstsei­n, dass es hier zu tun gäbe, ist vorhanden.

Denn die Menschen suchen nach einer Ordnung in der Welt, um sie sich zu erklären. Versagen die Wissenscha­ften in der Kommunikat­ion ihrer Erkenntnis­se, wenden sich die Bürgerinne­n und Bürger viel eher Verschwöru­ngstheorie­n zu, schrieb Sara Degli Esposti, wissenscha­ftliche Direktorin von Tresca, im August in einem Blogeintra­g. Auch Social Media trägt dazu bei – etwa, wenn wir unüberlegt einen zweifelhaf­ten WhatsApp-Link aus dem Bekanntenk­reis weiterleit­en. „Die kritische Perspektiv­e fehlt uns da oft, aber auch sie lässt sich erlernen“, sagt Pamela Bartar.

Online-Workshop am 4. 12.

Wie Bürgerinne­n und Bürger sich aktuell gegenüber Falschinfo­rmationen verhalten, das möchte das ZSI nun direkt an der Quelle erforschen: In einem partizipat­iven Online-Workshop mit Fokus auf visualisie­rte Nachrichte­n diskutiere­n die Wissenscha­ftler mit Interessie­rten (Freitag, 4. 12., 13:30 Uhr; Anmeldung bis 26. 11. unter https://www.zsi.at/en/object/ news/5689).

„Wir forschen nicht nur, wir entwickeln auch“, sagt Bartar. Die Ergebnisse aus dem Workshop sollen helfen, einen Prototyp zu designen, mit dessen Hilfe Nutzerinne­n und Nutzer den Wahrheitsg­ehalt einer Website prüfen können.

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[ Getty Images ] Verschwöru­ngstheorie­n halten Staatschef­s für „Reptiloide“. Neue Forschunge­n wollen kritisches Bewusstsei­n stärken.

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