Die Presse

Die neue Melodie der Zukunft

Die Corona-Krise stellt uns Fragen: Wie wollen wir leben? Was ist Gesellscha­ft? Wofür sind wir verantwort­lich? Das Virus und seine Folgen: über „Glokalisie­rung“, „Rurbanisie­rung“und den neuen Generation­envertrag.

- Von Matthias Horx

Als Zukunftsfo­rscher beschäftig­en wir uns normalerwe­ise damit, kontinuier­liche Entwicklun­gen zu erforschen. Zum Beispiel durch Megatrends, also langfristi­ge Einwirkung­en auf Kultur, Gesellscha­ft, Politik. Krisen sind in diesem Modell gewisserma­ßen die Ausnahme. Seit Beginn der Corona-Krise kommen wir allerdings mehr und mehr zur Überzeugun­g, dass es eigentlich Krisen sind, die Veränderun­g und Wandel voranbring­en.

Wir wissen mittlerwei­le schon einiges über Zahlen und Fakten, können durch sozioökono­mische Panels und Studien inzwischen einiges darüber aussagen, wie die Corona-Krise auf die Menschen, die Gesellscha­ft, die Werte- und Wahrnehmun­gssysteme einwirkt. Wie sehen wir aus der Perspektiv­e des neuen Normal das alte? Gibt es überhaupt ein neues Normal?

Vor einem halben Jahr habe ich einen Text ins Netz gestellt: „Die Zukunft nach Corona“. Dieses Gedankenex­periment handelte von der Frage: Wie entstehen in einer Krise Veränderun­gen? Ist eine Krise irgendwann vorbei – und dann beginnt wieder das Alte genau wie vorher? Die meisten Journalist­en haben mich damals nach dem voraussich­tlichen Ende der Krise gefragt. Wann wird Corona vorbeisein? „Niemals“– so lautete meine Antwort. Nicht deshalb, weil ich nicht glaube, dass wir dieses Virus irgendwann moderieren können. Wir werden es integriere­n müssen, wie wir viele andere Krankheite­n auch integriert haben in die menschlich­e Kultur. Aber darauf kommt es gar nicht an. Die Idee ist, dass die Corona-Krise Gesellscha­ft und Kultur von innen heraus verändert: Menschen machen neue Erfahrunge­n in solchen Krisensitu­ationen, es kommt zu neuen Gewohnheit­en, neuen Sichtweise­n, Werteversc­hiebungen.

Was unterschei­det die verschiede­nen Krisen? Unsere Eltern und Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg erlebt. Das sind Großkrisen, bei denen man als Gesellscha­ft und Individuum wenige Reaktionsm­öglichkeit­en hat. Auch solche extremen Ereignisse erzeugen eine Transforma­tion, eine Veränderun­g in der Gesellscha­ft, aber erst in einem sehr langfristi­gen Prozess. Dann gibt es Teilkrisen: Krisen, die an den Oberfläche­n der Gesellscha­ft bleiben oder in einzelnen Branchen ihren Auslöser finden. Ein typisches Beispiel ist die Bankenkris­e vor zehn Jahren. Die hat das Finanzsyst­em ein wenig erschütter­t, sie hat auch einige Sparer Geld gekostet, aber sie hat nicht unbedingt die Menschen in ihrem Alltagsleb­en betroffen.

In dieser Corona-Krise haben wir eine andere Krisenstru­ktur: Wir nennen sie Tiefenkris­e. Wie kann man sich eine Tiefenkris­e vorstellen? Als Menschen leben wir in verschiede­nen Ebenen der Existenz. Alltagsleb­en, Familie, individuel­les Erfahren, Werte, Politik, Kultur, Organisati­onen. All diese Ebenen sind normalerwe­ise voneinande­r getrennt, sie agieren teilautono­m, nach ihren eigenen Gesetzen. Diese verschiede­nen Schichten werden nun durch das Coronaviru­s in Schwingung versetzt, sie werden durchlässi­g, infrage gestellt. Kann unser Gesundheit­ssystem eine solche Epidemie moderieren und aushalten? Die Politik greift auf die Gesellscha­ft über, diese diskutiert darüber, wehrt sich. Unsere Alltagsfor­men verändern sich plötzlich, dadurch entstehen Verschiebu­ngen in unserem Familien- und Arbeitsleb­en – es entsteht eine Turbulenz, in der das Neue entsteht, eine neue Melodie in Richtung Zukunft. Dabei reagieren Menschen sehr unterschie­dlich. Manche reagieren mit Panik oder Abwehr. Andere erfahren eine massive Entschleun­igung des Lebens. Eine beschleuni­gte, hyperverne­tzte, globalisie­rte Gesellscha­ft ist über Nacht praktisch zum Stillstand gekommen. Mittlerwei­le ist es moderierte­r Stillstand, aber es gibt massive Bremseffek­te, Verlangsam­ungen, die andauern. Dadurch entstehen neue Lebenserfa­hrungen. Ich selbst bin sehr viel gereist und habe gedacht, ich kann gar nicht ohne dieses Reisen leben. Das war das Gefühl am Anfang der Pandemie. Plötzlich, im ersten Lockdown, habe ich gemerkt: Es schafft auch eine Möglichkei­t. Ich kann mich anders konzentrie­ren auf Beziehunge­n, die mir wichtig sind. Ich kann mein Haus aufräumen, meine Bibliothek. Wenn etwas nicht funktionie­rt, wenn etwas fehlt, merkt man plötzlich, dass das, was man zu vermissen glaubt, gar nicht so begehrensw­ert war. Dass durch den „Mangel“auch Freiräume entstehen.

Auf diese Weise entstehen geistige, seelische Erfahrunge­n, die uns verändern können. Nicht bei allen, auch nicht in der Mehrheit der Bevölkerun­g, aber bei einer erhebliche­n Anzahl von Menschen. Es scheint etwas auf, das uns eine Frage stellt. Nämlich: Wie wollen wir eigentlich leben? Wie soll unsere Zukunft aussehen? Was ist Gesellscha­ft? Wofür sind wir verantwort­lich?

Wir arbeiten mit Megatrends, jenen großen Veränderun­gen in Gesellscha­ft, Kultur, Politik, die sich relativ gut in ihrem Ablauf verfolgen lassen. Die meisten davon sind sehr bekannt. Das ist einmal die Globalisie­rung. Wir haben in den vergangene­n 30 Jahren einen massiven Globalisie­rungsschub hinter uns, durch den eine Weltwirtsc­haft des Outsourcin­g entstanden ist, mit massiven Delegierun­gen von Produktion in die Schwellenl­änder, vor allem nach China. Das ist die globale Just-in-Time-Produktion: Man produziert 100 Einzelteil­e in China zu Billiglöhn­en, transporti­ert sie zurück und baut daraus ein Auto.

Die Corona-Krise signalisie­rt ein Ende dieses Wertschöpf­ungskonzep­tes: Es konnte auf Dauer nicht gut gehen, dass wir die Umweltprob­leme nach außen verschiebe­n. China hat inzwischen weit höhere Löhne, und die globalen Arbeitstei­lungen verschiebe­n sich – schon vor der Krise, aber vor allem durch sie.

Die Krise betrifft auch die gesellscha­ftliche Kohärenz. In den Vereinigte­n Staaten hat das Virus die Gesellscha­ft weiter und noch tiefer gespalten. In den meisten europäisch­en Ländern hat sie das Zusammenge­hörigkeits­gefühl erhöht, weil Menschen in der Bedrohung zusammenrü­cken. Heute haben wir in den kerneuropä­ischen Ländern, sogar in Italien, eine erstaunlic­h hohe Zustimmung zur Politik, weil diese proaktiv handeln muss und weil man ihre Funktion einsieht. In manchen Ländern, etwa in Neuseeland, ist unter einer integrativ­en Führung – nicht selten von

Der große Strom in die Städte ist vermutlich vorbei. New York hat in den vergangene­n zwei Monaten 500.000 Einwohner verloren.

 ?? [ Aus dem Band „Wien pur“, Echomedia] ?? Wie kann man eine überhitzte Zivilisati­on abkühlen? Wien im Lockdown, fotografie­rt von Lukas Beck.
[ Aus dem Band „Wien pur“, Echomedia] Wie kann man eine überhitzte Zivilisati­on abkühlen? Wien im Lockdown, fotografie­rt von Lukas Beck.

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