Die neue Melodie der Zukunft
Die Corona-Krise stellt uns Fragen: Wie wollen wir leben? Was ist Gesellschaft? Wofür sind wir verantwortlich? Das Virus und seine Folgen: über „Glokalisierung“, „Rurbanisierung“und den neuen Generationenvertrag.
Als Zukunftsforscher beschäftigen wir uns normalerweise damit, kontinuierliche Entwicklungen zu erforschen. Zum Beispiel durch Megatrends, also langfristige Einwirkungen auf Kultur, Gesellschaft, Politik. Krisen sind in diesem Modell gewissermaßen die Ausnahme. Seit Beginn der Corona-Krise kommen wir allerdings mehr und mehr zur Überzeugung, dass es eigentlich Krisen sind, die Veränderung und Wandel voranbringen.
Wir wissen mittlerweile schon einiges über Zahlen und Fakten, können durch sozioökonomische Panels und Studien inzwischen einiges darüber aussagen, wie die Corona-Krise auf die Menschen, die Gesellschaft, die Werte- und Wahrnehmungssysteme einwirkt. Wie sehen wir aus der Perspektive des neuen Normal das alte? Gibt es überhaupt ein neues Normal?
Vor einem halben Jahr habe ich einen Text ins Netz gestellt: „Die Zukunft nach Corona“. Dieses Gedankenexperiment handelte von der Frage: Wie entstehen in einer Krise Veränderungen? Ist eine Krise irgendwann vorbei – und dann beginnt wieder das Alte genau wie vorher? Die meisten Journalisten haben mich damals nach dem voraussichtlichen Ende der Krise gefragt. Wann wird Corona vorbeisein? „Niemals“– so lautete meine Antwort. Nicht deshalb, weil ich nicht glaube, dass wir dieses Virus irgendwann moderieren können. Wir werden es integrieren müssen, wie wir viele andere Krankheiten auch integriert haben in die menschliche Kultur. Aber darauf kommt es gar nicht an. Die Idee ist, dass die Corona-Krise Gesellschaft und Kultur von innen heraus verändert: Menschen machen neue Erfahrungen in solchen Krisensituationen, es kommt zu neuen Gewohnheiten, neuen Sichtweisen, Werteverschiebungen.
Was unterscheidet die verschiedenen Krisen? Unsere Eltern und Großeltern haben den Zweiten Weltkrieg erlebt. Das sind Großkrisen, bei denen man als Gesellschaft und Individuum wenige Reaktionsmöglichkeiten hat. Auch solche extremen Ereignisse erzeugen eine Transformation, eine Veränderung in der Gesellschaft, aber erst in einem sehr langfristigen Prozess. Dann gibt es Teilkrisen: Krisen, die an den Oberflächen der Gesellschaft bleiben oder in einzelnen Branchen ihren Auslöser finden. Ein typisches Beispiel ist die Bankenkrise vor zehn Jahren. Die hat das Finanzsystem ein wenig erschüttert, sie hat auch einige Sparer Geld gekostet, aber sie hat nicht unbedingt die Menschen in ihrem Alltagsleben betroffen.
In dieser Corona-Krise haben wir eine andere Krisenstruktur: Wir nennen sie Tiefenkrise. Wie kann man sich eine Tiefenkrise vorstellen? Als Menschen leben wir in verschiedenen Ebenen der Existenz. Alltagsleben, Familie, individuelles Erfahren, Werte, Politik, Kultur, Organisationen. All diese Ebenen sind normalerweise voneinander getrennt, sie agieren teilautonom, nach ihren eigenen Gesetzen. Diese verschiedenen Schichten werden nun durch das Coronavirus in Schwingung versetzt, sie werden durchlässig, infrage gestellt. Kann unser Gesundheitssystem eine solche Epidemie moderieren und aushalten? Die Politik greift auf die Gesellschaft über, diese diskutiert darüber, wehrt sich. Unsere Alltagsformen verändern sich plötzlich, dadurch entstehen Verschiebungen in unserem Familien- und Arbeitsleben – es entsteht eine Turbulenz, in der das Neue entsteht, eine neue Melodie in Richtung Zukunft. Dabei reagieren Menschen sehr unterschiedlich. Manche reagieren mit Panik oder Abwehr. Andere erfahren eine massive Entschleunigung des Lebens. Eine beschleunigte, hypervernetzte, globalisierte Gesellschaft ist über Nacht praktisch zum Stillstand gekommen. Mittlerweile ist es moderierter Stillstand, aber es gibt massive Bremseffekte, Verlangsamungen, die andauern. Dadurch entstehen neue Lebenserfahrungen. Ich selbst bin sehr viel gereist und habe gedacht, ich kann gar nicht ohne dieses Reisen leben. Das war das Gefühl am Anfang der Pandemie. Plötzlich, im ersten Lockdown, habe ich gemerkt: Es schafft auch eine Möglichkeit. Ich kann mich anders konzentrieren auf Beziehungen, die mir wichtig sind. Ich kann mein Haus aufräumen, meine Bibliothek. Wenn etwas nicht funktioniert, wenn etwas fehlt, merkt man plötzlich, dass das, was man zu vermissen glaubt, gar nicht so begehrenswert war. Dass durch den „Mangel“auch Freiräume entstehen.
Auf diese Weise entstehen geistige, seelische Erfahrungen, die uns verändern können. Nicht bei allen, auch nicht in der Mehrheit der Bevölkerung, aber bei einer erheblichen Anzahl von Menschen. Es scheint etwas auf, das uns eine Frage stellt. Nämlich: Wie wollen wir eigentlich leben? Wie soll unsere Zukunft aussehen? Was ist Gesellschaft? Wofür sind wir verantwortlich?
Wir arbeiten mit Megatrends, jenen großen Veränderungen in Gesellschaft, Kultur, Politik, die sich relativ gut in ihrem Ablauf verfolgen lassen. Die meisten davon sind sehr bekannt. Das ist einmal die Globalisierung. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren einen massiven Globalisierungsschub hinter uns, durch den eine Weltwirtschaft des Outsourcing entstanden ist, mit massiven Delegierungen von Produktion in die Schwellenländer, vor allem nach China. Das ist die globale Just-in-Time-Produktion: Man produziert 100 Einzelteile in China zu Billiglöhnen, transportiert sie zurück und baut daraus ein Auto.
Die Corona-Krise signalisiert ein Ende dieses Wertschöpfungskonzeptes: Es konnte auf Dauer nicht gut gehen, dass wir die Umweltprobleme nach außen verschieben. China hat inzwischen weit höhere Löhne, und die globalen Arbeitsteilungen verschieben sich – schon vor der Krise, aber vor allem durch sie.
Die Krise betrifft auch die gesellschaftliche Kohärenz. In den Vereinigten Staaten hat das Virus die Gesellschaft weiter und noch tiefer gespalten. In den meisten europäischen Ländern hat sie das Zusammengehörigkeitsgefühl erhöht, weil Menschen in der Bedrohung zusammenrücken. Heute haben wir in den kerneuropäischen Ländern, sogar in Italien, eine erstaunlich hohe Zustimmung zur Politik, weil diese proaktiv handeln muss und weil man ihre Funktion einsieht. In manchen Ländern, etwa in Neuseeland, ist unter einer integrativen Führung – nicht selten von
Der große Strom in die Städte ist vermutlich vorbei. New York hat in den vergangenen zwei Monaten 500.000 Einwohner verloren.