Die Presse

„Terra Nova“in Floridsdor­f

Hausgeschi­chte. Die Siedlung Siemensstr­aße wurde vor 70 Jahren als „Schnellbau­programm“im 21. Bezirk mit 1700 Wohnungen errichtet. Ein Spaziergan­g durch den Gemeindeba­u.

- VON DANIELA MATHIS

Wien 1951: Wiederaufb­au und Not beherrsche­n die Stadt, 86.000 Wohnungen fehlen. Auch Karl Bachmaier, ÖBB-Bedienstet­er und Hobbyfotog­raf, ist auf der Suche, stellt einen Antrag auf eine Gemeindewo­hnung. Am 26. Juni 1951 wird der dreiköpfig­en Familie eine Wohnung in der neuen Siedlung Siemensstr­aße zugewiesen, bestehend aus „1 Zimmer, 1 Wohnküche, 1 Vorraum, 1 Waschraum, 1 Abstellkam­mer“. Für die 38 m2 bezahlt er 68,68 Schilling/Monat.

Bäder gibt es in der neu erbauten Siedlung keine, und das Tröpferlba­d zählt für 1700 Wohnungen 17 Kabinen. Dafür findet man: sehr viel Grün, Kinderfrei­bad und -garten, Spielplätz­e, zum Teil Eigengärte­n, Ladenzeile, Eisdiele, Friseur und eine „Heimstätte für alte Menschen“. Die Wohnungen sind klein gehalten – und sollen später bei Bedarf leicht zusammenge­schlossen werden können. „Duplex-Wohnungen nannte man das“, erklärt Wolfgang Fichna vom Wien Museum, das hier, in der Scottgasse 5, gemeinsam mit Wohnpartne­r-Team 21 und der Wiener Wohnbaufor­schung die Ausstellun­g „Terra Nova“kuratiert hat. Ergänzt wird sie mit einer Fotoschau aktueller Bewohner im

Bewohner-Zentrum Ruthnergas­se (bis März, derzeit geschlosse­n, Näheres siehe Kasten).

Wenig Privat-, viel Grünraum

Zeitzeugen­berichte, Schautafel, und Erinnerung­sstücke geben Einblicke in die Geschichte der Siedlung. Dazu gehören auch Korrespond­enz, Fotos und Möbel der Familie Bachmaier, etwa ein schmaler Sideboard-Tisch. Auf den Fotos ist seine Nutzung dokumentie­rt: Essen, spielen, Hausaufgab­en und, des Nachts, die Heimarbeit wurden auf dem Tischchen erledigt. „Die Möbel mussten platzspare­nd und multifunkt­ional sein“, erklärt Susanne Winkler vom Wien Museum. Das entsprach ganz dem Ideal der Zeit – allerdings waren die Stücke meist nicht so elegant wie die angestrebt­en Vorbilder aus Zeitschrif­ten oder der eigens entwickelt­en Wiener SW-Möbellinie (Soziale Wohnkultur). Auch das Bad wurde mit mehr oder weniger Raffinesse zu ersetzen versucht: „In vielen Wohnungen entstanden Duschklos, für kleine Kinder gab es Wannen mit mittigem Auslauf, die man auf das WC stellte“, erzählt Fichna. Dass man überhaupt Gemeindeba­uten ohne Bad baute – eine extreme Ausnahme – war der Not der Zeit geschuldet.

Als Architekt des Schnellbau­programms wurde Franz Schuster (1892–1972) beauftragt. Seine NSNähe ab 1938 störte sichtlich nicht, man besann sich eher auf den Beginn seiner Karriere in der Siedlerbew­egung des Roten Wien.

Und er brachte diese Idee in die Siemensstr­aße mit: In der Mitte der Siedlung dominieren einstöckig­e Häuser mit Eigengärte­n. Besonders die Idee des integriert­en Wohnens für Ältere (und Kriegsvers­ehrte) mit eigenen Wohnungen und Gemeinscha­ftsflächen erscheint heute bemerkensw­ert modern.

„Die tiefen Fenster sollten den Menschen, die ihre Zeit oft sitzend verbrachte­n, mehr Tageslicht bringen“, erklärt Werner Michael Schwarz vom Wien Museum. Das Konzept funktionie­rte bis in die 1960er-Jahre. „Zeitzeugen erinnern sich, dass sie als Kinder den ,Alten‘ oft kleinere Arbeiten bringen und diese wieder abholen mussten“, erzählt Burak Büyük vom Wohnpartne­r-Team 21 von Erzählunge­n langjährig­er Bewohner. „Und der versteckte Garten wurde zum Busseln genutzt.“

Eine engagierte Gruppe von Bewohnern war es auch, die die Ausstellun­g überhaupt ins Rollen brachte. Unter ihnen die Tochter Bachmaiers. Sie wohnte als Jungvermäh­lte mit Ehemann und erstem Kind für einige Zeit weiterhin bei den Eltern: Drei Generation­en auf 38 m2. Als die junge Familie Ende der 1960er-Jahre endlich in eine neue Wohnung übersiedel­n konnte, fühlte sich sich auf den 56 m2 „wie in einem Tanzpalast“.

 ?? [ Daniela Mathis ] ?? Zeitkolori­t und Übersichts­karte in der Ausstellun­g. V. l.: Werner Michael Schwarz, Susanne Winkler (beide Wien Museum), Burak Büyük (Leiter Wohnpartne­r-Team 21), Wolfgang Fichna (Wien Museum).
[ Daniela Mathis ] Zeitkolori­t und Übersichts­karte in der Ausstellun­g. V. l.: Werner Michael Schwarz, Susanne Winkler (beide Wien Museum), Burak Büyük (Leiter Wohnpartne­r-Team 21), Wolfgang Fichna (Wien Museum).
 ?? [ Wien Museum ] ?? Siedlung Siemensstr­aße 1954: hohe Häuserbloc­ks am Rand, je mittiger, desto niedriger.
[ Wien Museum ] Siedlung Siemensstr­aße 1954: hohe Häuserbloc­ks am Rand, je mittiger, desto niedriger.
 ?? [ Daniela Mathis ] ?? Erinnert an englische Reihenhäus­er: zweistöcki­ge Häuser in der Wankeläcke­rstraße.
[ Daniela Mathis ] Erinnert an englische Reihenhäus­er: zweistöcki­ge Häuser in der Wankeläcke­rstraße.
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