Von Schirach: Wildnis in uns.
Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet, statt unberührter Natur finden wir nur unsere eigenen Spuren – alte Flaschen auf Bergen, Zigarettenstummel am Strand, Verpackungsmüll im Ozean. Dennoch, es bleibt eine unergründliche Tiefe, die es erst zu
Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet. Und doch, es bleibt eine unergründliche Tiefe. Ariadne von Schirach über die Wildnis in uns.
Die Wildnis ist näher, als du denkst. Sie zeigt sich als unverdrossenes Blühen auf einem Hinterhof, als verwunschener Wald, vielleicht sogar in den unkämmbaren Haaren eines Kindes. Aber nein – Wildnis beginnt dort, wo der Mensch nicht mehr ist. Sie ist unberührte Natur, unbearbeitet, unzugänglich. Für die Römer fing sie da an, wo die eigene Zivilisation aufhörte, für die ersten amerikanischen Siedler markierte sie die Grenze, frontier genannt, des bereits urbar gemachten Landes.
Wildnis als Gegenentwurf von Zivilisation und Kultur hat eine lange Geschichte – in dieser Trennung liegt ihre Anziehungskraft begründet und die Sehnsucht, die sie auszulösen vermag: Freiheit, Ungezähmtheit, Ursprünglichkeit.
Aber gibt es noch echte Wildnis? Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet, und wir finden statt unberührter Natur nur unsere eigenen Spuren – alte Flaschen auf den Bergen, Zigarettenstummel am Strand und Verpackungsmüll im Ozean. Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen, hat schon lang begonnen, begleitet von Klimawandel und dem erschreckend rasanten Aussterben vieler Tierarten.
Dennoch ist nicht die Natur von unserer Lebensweise bedroht, sondern wir selbst, die Lebensräume unserer Spezies sind gefährdet. Sollten wir also all die Stürme und Waldbrände und Flutwellen als neue Art von Wildnis begreifen, als Einbrechen einer ebenso unkontrollierbaren wie gleichgültigen Natur?
Gewiss ist nur, dass die Welt vielleicht vermessen scheint, aber niemals ausgelotet ist. Dieses Gewahrsein einer unergründlichen Tiefe spiegelt sich in Henry Thoreaus Umdeutung des Grenzbegriffs. Seine frontier bezieht sich nicht mehr auf ein zu seiner Zeit bereits erschlossenes Amerika, sondern auf das Unzugängliche der eigenen Seele. In seinen Tagebüchern schreibt er am 21. März 1840: „Mögen wir ununterbrochen im Inneren wandern und unsere Zelte täglich näher am westlichen Horizont aufschlagen.“
Thoreau erteilt, mehr als fünfzig Jahre vor Freud, einen Marschbefehl ins Unbewusste. Denn die Wildnis, die es fortan zu kultivieren gilt, liegt in uns. Sie meint das wilde Land jenseits der beackerten Felder unserer üblichen Geschichten und Selbstverständnisse. Mehr noch, sie ist das Fremde im Vertrauten; das, was wir abwehren, verdrängen, nicht wissen wollen. Auch die innere Wildnis beginnt dort, wo der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist. Sie zu erkunden heißt, sich dem Verdrängten zu stellen, um daraufhin andere, angemessenere Narrationen zu entwickeln.
Lichtung des Weltinnenraums
Das betrifft natürlich die Frage, wie und auf welche Weisen das massenhafte Artensterben, die Erderwärmung und die Verschmutzung des Planeten unserer Lebensweise geschuldet sind. Aber es betrifft auch den ganzen Rest. Die Krisen, die uns in jüngster Zeit erschüttert haben, sind eine Lichtung des Weltinnenraums, und alles, was verdrängt und weggeschoben wurde, dröhnt uns entgegen: Sexismus, Rassismus, Ausbeutung und die ungerechte Verteilung von Reichtum. Doch zugleich steckt in diesem immer lauter werdenden Sprechen des Verdrängten ein Wissen darum, wo die Arbeit an einer anderen Zukunft liegt, und was wir dafür zu integrieren und zu verwandeln haben. Nicht für eine ferne Zukunft und schon gar nicht für eine andere Welt, sondern für unser gemeinsames Hiersein, getragen von einer Haltung, welche die Endlichkeit und Verletzlichkeit allen Lebens spürt und gerade deshalb alles Lebendige achtet und schützt. Wir müssen nicht mehr Land erschließen, sondern unsere innere Welt aufs Neue besiedeln und dadurch langsam die kollektive frontier weiter in Richtung des westlichen Horizonts schieben.
Doch obwohl viele unserer Konflikte ihre Lösung bereits in sich tragen, ist dieser Aufbruch zum Horizont stets eine Reise mit offenem Ausgang. Die Wildnis, die es zu kultivieren gilt, mag innen liegen, aber ihr wahrer Ruf ereilt uns aus der Zukunft. Wir wissen nicht, was kommt, allen Vermessungen und Prognosen zum Trotz. Dieses Jahr war ein Einbruch kollektiver Verunsicherung, der langfristige Planung durch tagesaktuelle Heuristik ersetzt hat.
Diese Kunst, mit begrenztem Wissen zu praktikablen Lösungen zu kommen, gehört zum Handwerkszeug aller Abenteurerinnen: Pi mal Daumen, und immer in Bewegung bleiben. Doch wenn wir dabei nicht aufbrechen, wohin wir wollen, brechen wir dahin auf, wohin wir nicht wollen.
Wir können nicht rasten, nicht ruhen, uns nicht entziehen, und das Kommende holt uns ebenso ein, wie wir ihm entgegenleben. Der österreichische Wissenschaftsphilosoph Otto Neurath verglich die Lage des Menschen mit der von Seeleuten, die immer schon eingeschifft sind. Wir können das Boot nur während der Fahrt umbauen, denn es gibt kein Trockendock. Die Planken, auf denen wir stehen, sind das, was die Menschen vor uns dachten und taten. Und die Planken, auf denen die Generationen nach uns stehen werden, sind unsere eigenen Taten und Träume. Das, woran wir glauben und festhalten, und das, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken, bestimmen unsere gemeinsame Navigation durchs Leben. Und obwohl die Zukunft unwägbar bleibt, geben unsere individuellen und kollektiven Entscheidungen dem Kommenden seine Gestalt.
Es ist von Bedeutung, wie wir über uns, die Natur und all die anderen Lebewesen, die die Welt mit uns teilen, denken. Ob wir uns als arrogante Krone der Schöpfung verstehen oder als Spezies unter Spezies, in Interdependenz und Austausch mit allem, was ist. Und ob es uns überhaupt gelingt, uns selbst endlich als eine Spezies zu begreifen.
In den vielen Kämpfen dieser Tage um Identitäten und deren Anerkennung verlieren wir allzu leicht aus den Augen, dass uns Menschen viel mehr verbindet als trennt. In diesem Sinne ist die Pandemie durchaus auch eine Erfahrung globaler Zugehörigkeit. Mehr noch, sie hat uns zum ersten Mal dazu gebracht, die Konsequenzen dieser Zugehörigkeit auch für eine Weile gemeinsam zu tragen.
Doch diese Erfahrung globaler Solidarität, verbunden mit der Gewissheit, dass es auf jeden Einzelnen von uns ankommt, ist unvollständig ohne ihr Gegenteil: die Individualität ebendieser Einzelnen, ihre Einmaligkeit. Thoreau schreibt in seinem Essay „Vom Spazieren“: „Wildheit garantiert die Erhaltung der Welt. Jeder Baum reckt seine Zweige und Wurzeln und sucht nach dem Wilden.“
Diesen Eigensinn müssen wir ebenso bewahren wie fördern, denn wir sind nicht nur alle miteinander eingeschifft, sondern jeder Mensch ist zugleich eine ganz eigene Antwort auf die Frage nach dem MenschSein und unserer gemeinsamen Zukunft. Doch wie kommen wir zusammen zu einer neuen Antwort?
Reichtum in Vielfalt
In der Natur entsteht Neues aus sich selbst heraus und durch Mutationen. In vielen Lebensräumen kommt das Neue auch von den Rändern. Unerwartete Blumen blühen am Saum eines Waldes, kleine Tiere siedeln sich auf der Wiese an, die in den Wald übergeht, durchreisende Tiere bringen neue Samen mit. Das gilt auch für unsere Gesellschaft, deren Reichtum in der Vielfalt ihrer unterschiedlichen Perspektiven liegt. Nicht nur Impulse von außen, sondern auch eigensinnige Lebensformen im Inneren bereichern das Ganze auf unvorhergesehene Weise.
Die innere Wildnis jedoch ist oft ein schmerzlicher Ort, der uns daran erinnert, wie unberechenbar die Zukunft ist, auf welch schwankendem Boden wir stehen und wie wenig wir vermögen. Sich ihrem Ruf zu stellen, heißt nicht nur zu wissen, was wir ändern müssen, sondern auch anzunehmen, was wir nicht mehr ändern können.
Donna Haraway spricht von der Fähigkeit, mit Verlust zu leben, und erzählt Geschichten vom Überleben auf einem beschädigten Planeten. Bruno Latour verweist auf die Möglichkeit, terrestrisch zu denken, indem man sich zu seiner eigenen Verwurzelung bekennt und sich dadurch bewusst auf der Erde beheimatet. Damit solche Aneignungen gelingen können, brauchen wir nicht nur Mut, Sensibilität und Mitgefühl, sondern auch neue Landkarten, Navigationsweisen und Haltungen. Sie alle sind dort, wo auch die Wildnis ist : mitten in uns.