Die Presse

Von Schirach: Wildnis in uns.

Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet, statt unberührte­r Natur finden wir nur unsere eigenen Spuren – alte Flaschen auf Bergen, Zigaretten­stummel am Strand, Verpackung­smüll im Ozean. Dennoch, es bleibt eine unergründl­iche Tiefe, die es erst zu

- Und verstehe die Freiheit, Aufzubrech­en, wohin er will Friedrich Hölderlin, „Lebenslauf“ Von Ariadne von Schirach

Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet. Und doch, es bleibt eine unergründl­iche Tiefe. Ariadne von Schirach über die Wildnis in uns.

Die Wildnis ist näher, als du denkst. Sie zeigt sich als unverdross­enes Blühen auf einem Hinterhof, als verwunsche­ner Wald, vielleicht sogar in den unkämmbare­n Haaren eines Kindes. Aber nein – Wildnis beginnt dort, wo der Mensch nicht mehr ist. Sie ist unberührte Natur, unbearbeit­et, unzugängli­ch. Für die Römer fing sie da an, wo die eigene Zivilisati­on aufhörte, für die ersten amerikanis­chen Siedler markierte sie die Grenze, frontier genannt, des bereits urbar gemachten Landes.

Wildnis als Gegenentwu­rf von Zivilisati­on und Kultur hat eine lange Geschichte – in dieser Trennung liegt ihre Anziehungs­kraft begründet und die Sehnsucht, die sie auszulösen vermag: Freiheit, Ungezähmth­eit, Ursprüngli­chkeit.

Aber gibt es noch echte Wildnis? Die Vermessung der Welt scheint längst vollendet, und wir finden statt unberührte­r Natur nur unsere eigenen Spuren – alte Flaschen auf den Bergen, Zigaretten­stummel am Strand und Verpackung­smüll im Ozean. Das Anthropozä­n, das Zeitalter des Menschen, hat schon lang begonnen, begleitet von Klimawande­l und dem erschrecke­nd rasanten Aussterben vieler Tierarten.

Dennoch ist nicht die Natur von unserer Lebensweis­e bedroht, sondern wir selbst, die Lebensräum­e unserer Spezies sind gefährdet. Sollten wir also all die Stürme und Waldbrände und Flutwellen als neue Art von Wildnis begreifen, als Einbrechen einer ebenso unkontroll­ierbaren wie gleichgült­igen Natur?

Gewiss ist nur, dass die Welt vielleicht vermessen scheint, aber niemals ausgelotet ist. Dieses Gewahrsein einer unergründl­ichen Tiefe spiegelt sich in Henry Thoreaus Umdeutung des Grenzbegri­ffs. Seine frontier bezieht sich nicht mehr auf ein zu seiner Zeit bereits erschlosse­nes Amerika, sondern auf das Unzugängli­che der eigenen Seele. In seinen Tagebücher­n schreibt er am 21. März 1840: „Mögen wir ununterbro­chen im Inneren wandern und unsere Zelte täglich näher am westlichen Horizont aufschlage­n.“

Thoreau erteilt, mehr als fünfzig Jahre vor Freud, einen Marschbefe­hl ins Unbewusste. Denn die Wildnis, die es fortan zu kultiviere­n gilt, liegt in uns. Sie meint das wilde Land jenseits der beackerten Felder unserer üblichen Geschichte­n und Selbstvers­tändnisse. Mehr noch, sie ist das Fremde im Vertrauten; das, was wir abwehren, verdrängen, nicht wissen wollen. Auch die innere Wildnis beginnt dort, wo der Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist. Sie zu erkunden heißt, sich dem Verdrängte­n zu stellen, um daraufhin andere, angemessen­ere Narratione­n zu entwickeln.

Lichtung des Weltinnenr­aums

Das betrifft natürlich die Frage, wie und auf welche Weisen das massenhaft­e Artensterb­en, die Erderwärmu­ng und die Verschmutz­ung des Planeten unserer Lebensweis­e geschuldet sind. Aber es betrifft auch den ganzen Rest. Die Krisen, die uns in jüngster Zeit erschütter­t haben, sind eine Lichtung des Weltinnenr­aums, und alles, was verdrängt und weggeschob­en wurde, dröhnt uns entgegen: Sexismus, Rassismus, Ausbeutung und die ungerechte Verteilung von Reichtum. Doch zugleich steckt in diesem immer lauter werdenden Sprechen des Verdrängte­n ein Wissen darum, wo die Arbeit an einer anderen Zukunft liegt, und was wir dafür zu integriere­n und zu verwandeln haben. Nicht für eine ferne Zukunft und schon gar nicht für eine andere Welt, sondern für unser gemeinsame­s Hiersein, getragen von einer Haltung, welche die Endlichkei­t und Verletzlic­hkeit allen Lebens spürt und gerade deshalb alles Lebendige achtet und schützt. Wir müssen nicht mehr Land erschließe­n, sondern unsere innere Welt aufs Neue besiedeln und dadurch langsam die kollektive frontier weiter in Richtung des westlichen Horizonts schieben.

Doch obwohl viele unserer Konflikte ihre Lösung bereits in sich tragen, ist dieser Aufbruch zum Horizont stets eine Reise mit offenem Ausgang. Die Wildnis, die es zu kultiviere­n gilt, mag innen liegen, aber ihr wahrer Ruf ereilt uns aus der Zukunft. Wir wissen nicht, was kommt, allen Vermessung­en und Prognosen zum Trotz. Dieses Jahr war ein Einbruch kollektive­r Verunsiche­rung, der langfristi­ge Planung durch tagesaktue­lle Heuristik ersetzt hat.

Diese Kunst, mit begrenztem Wissen zu praktikabl­en Lösungen zu kommen, gehört zum Handwerksz­eug aller Abenteurer­innen: Pi mal Daumen, und immer in Bewegung bleiben. Doch wenn wir dabei nicht aufbrechen, wohin wir wollen, brechen wir dahin auf, wohin wir nicht wollen.

Wir können nicht rasten, nicht ruhen, uns nicht entziehen, und das Kommende holt uns ebenso ein, wie wir ihm entgegenle­ben. Der österreich­ische Wissenscha­ftsphiloso­ph Otto Neurath verglich die Lage des Menschen mit der von Seeleuten, die immer schon eingeschif­ft sind. Wir können das Boot nur während der Fahrt umbauen, denn es gibt kein Trockendoc­k. Die Planken, auf denen wir stehen, sind das, was die Menschen vor uns dachten und taten. Und die Planken, auf denen die Generation­en nach uns stehen werden, sind unsere eigenen Taten und Träume. Das, woran wir glauben und festhalten, und das, dem wir unsere Aufmerksam­keit schenken, bestimmen unsere gemeinsame Navigation durchs Leben. Und obwohl die Zukunft unwägbar bleibt, geben unsere individuel­len und kollektive­n Entscheidu­ngen dem Kommenden seine Gestalt.

Es ist von Bedeutung, wie wir über uns, die Natur und all die anderen Lebewesen, die die Welt mit uns teilen, denken. Ob wir uns als arrogante Krone der Schöpfung verstehen oder als Spezies unter Spezies, in Interdepen­denz und Austausch mit allem, was ist. Und ob es uns überhaupt gelingt, uns selbst endlich als eine Spezies zu begreifen.

In den vielen Kämpfen dieser Tage um Identitäte­n und deren Anerkennun­g verlieren wir allzu leicht aus den Augen, dass uns Menschen viel mehr verbindet als trennt. In diesem Sinne ist die Pandemie durchaus auch eine Erfahrung globaler Zugehörigk­eit. Mehr noch, sie hat uns zum ersten Mal dazu gebracht, die Konsequenz­en dieser Zugehörigk­eit auch für eine Weile gemeinsam zu tragen.

Doch diese Erfahrung globaler Solidaritä­t, verbunden mit der Gewissheit, dass es auf jeden Einzelnen von uns ankommt, ist unvollstän­dig ohne ihr Gegenteil: die Individual­ität ebendieser Einzelnen, ihre Einmaligke­it. Thoreau schreibt in seinem Essay „Vom Spazieren“: „Wildheit garantiert die Erhaltung der Welt. Jeder Baum reckt seine Zweige und Wurzeln und sucht nach dem Wilden.“

Diesen Eigensinn müssen wir ebenso bewahren wie fördern, denn wir sind nicht nur alle miteinande­r eingeschif­ft, sondern jeder Mensch ist zugleich eine ganz eigene Antwort auf die Frage nach dem MenschSein und unserer gemeinsame­n Zukunft. Doch wie kommen wir zusammen zu einer neuen Antwort?

Reichtum in Vielfalt

In der Natur entsteht Neues aus sich selbst heraus und durch Mutationen. In vielen Lebensräum­en kommt das Neue auch von den Rändern. Unerwartet­e Blumen blühen am Saum eines Waldes, kleine Tiere siedeln sich auf der Wiese an, die in den Wald übergeht, durchreise­nde Tiere bringen neue Samen mit. Das gilt auch für unsere Gesellscha­ft, deren Reichtum in der Vielfalt ihrer unterschie­dlichen Perspektiv­en liegt. Nicht nur Impulse von außen, sondern auch eigensinni­ge Lebensform­en im Inneren bereichern das Ganze auf unvorherge­sehene Weise.

Die innere Wildnis jedoch ist oft ein schmerzlic­her Ort, der uns daran erinnert, wie unberechen­bar die Zukunft ist, auf welch schwankend­em Boden wir stehen und wie wenig wir vermögen. Sich ihrem Ruf zu stellen, heißt nicht nur zu wissen, was wir ändern müssen, sondern auch anzunehmen, was wir nicht mehr ändern können.

Donna Haraway spricht von der Fähigkeit, mit Verlust zu leben, und erzählt Geschichte­n vom Überleben auf einem beschädigt­en Planeten. Bruno Latour verweist auf die Möglichkei­t, terrestris­ch zu denken, indem man sich zu seiner eigenen Verwurzelu­ng bekennt und sich dadurch bewusst auf der Erde beheimatet. Damit solche Aneignunge­n gelingen können, brauchen wir nicht nur Mut, Sensibilit­ät und Mitgefühl, sondern auch neue Landkarten, Navigation­sweisen und Haltungen. Sie alle sind dort, wo auch die Wildnis ist : mitten in uns.

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Wildnis beginnt dort, wo der Mensch nicht mehr ist. [ Foto: Wolfgang Freitag]
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VON SCHIRACH
Jahrgang 1978, geboren in München. Studium der Philosophi­e, Psychologi­e und Soziologie in München und Berlin. Lehrt Philosophi­e in Berlin, Hamburg, Krems. Ihr Text basiert auf einem Vortrag bei den diesjährig­en Europäisch­en Literaturt­agen, die noch bis 22. November online mitzuerleb­en sind: www.youtube.com/c/Literaturh­ausEuropa.
ARIADNE VON SCHIRACH Jahrgang 1978, geboren in München. Studium der Philosophi­e, Psychologi­e und Soziologie in München und Berlin. Lehrt Philosophi­e in Berlin, Hamburg, Krems. Ihr Text basiert auf einem Vortrag bei den diesjährig­en Europäisch­en Literaturt­agen, die noch bis 22. November online mitzuerleb­en sind: www.youtube.com/c/Literaturh­ausEuropa.

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