Leidenfrost in Serbien.
Expedition Europa: Banat in der dritten Covid-19-Welle.
In der Serie „Expedition Europa“: Martin Leidenfrost über Serbien in der dritten Covid-19-Welle.
Nach Serbien fahre ich, um eine Ahnung von unserer Zukunft zu kriegen: Es ist die einzige Gegend Europas, die sich bereits in der dritten Welle befindet. Die erste Welle endete am 26. Mai (239 Tote), die zweite am 13. September (494 Tote), die dritte und wohl tödlichste dauert laut Doktor Kocoviˇc´ bis 15. April 2021. Die serbische Frühlingswelle war ein gnadenloser Lockdown, die in der Sommerwelle angekündigte Ausgangssperre wurde nach Belgrader Wutkrawallen abgesagt, und die Herbstwelle rollte langsamer an als anderswo. Jetzt verzeichnet auch Serbien Totenrekorde. Wie lebt es sich also in der dritten Welle?
Vorab die Zusammenfassung: Die Maskenpflicht in Geschäften wird eingehalten, auf die anderen Maßnahmen wird gepfiffen.
Ich bin in einer viersprachigen Großgemeinde im Banat, in Kovacica.ˇ Die Großdörfer Kovacicaˇ und Padina sprechen slowakisch, Debeljacaˇ ungarisch/ serbisch, Uzdin rumänisch, die kleineren Dörfer serbisch. Die slowakischen Kolonisten kamen einst auch deswegen, weil sie hier ihren lutherischen Glauben leben konnten. Daher überrascht mich die Studie, laut der ein steigender Anteil von Slowaken „aus religiösen Gründen nicht am kulturellen Leben der Minderheit teilnimmt“. Tatsächlich finde ich viele neue Tempel ohne Turm und Kreuz, von Freikirchlern, Pfingstlern und „Nazarenern“erbaut. Eine nichtgläubige Bibliothekarin schimpft, amerikanisches Geld würde die Jungen seit der Finanzkrise zu den Sekten locken: „Sie reisen gratis durch die Welt, nach Florida, Dubai. Und das Weiblein muss dafür jedes Jahr ein Kind kriegen.“Ein solches „Weiblein“, Mutter von 13 Kindern, ist ihre beste Kundin, sie liest die ganze Belletristik des 19. Jahrhunderts aus. Zwar „ist uns der alte evangelische Pfarrer an dem Covid da gestorben“, Impfgegnerin ist die Bibliothekarin auch so.
„Wenn uns Gott nicht hilft . . .“
In Padina emfängt mich ein alter Bauunternehmer, „Bischof“der „Vertragskirche Zion“. Für slowakische Volkstänze, bestätigt er mir, „haben wir keine Zeit, die nationalen Angelegenheiten wurden für Kriege missbraucht“. In den Covid-Maßnahmen sieht er keinen Sinn: „Wenn uns Gott nicht hilft, lässt uns die Maske auch nicht bestehen.“
Ich bin Insasse eines Lockdown-Landes, darum bezaubern mich die offenen Lokale. Etwa die Tanzbar „Dzejmsˇ Caffe“,´ Samstagabend in Debeljaca.ˇ Ein Aushang beschränkt auf zwölf Personen, ich trete als 14. ein, und da fangen sie erst an. Ein sehniges Kerlchen zählt Geldbündel und bringt mir zum Macchiato einen Flakon mit Desinfektion. „75 Prozent“, sagt er und zeigt mit spaßigen Gesten, was wäre, wenn ich das tränke.
Dann „La Mitica“, ein kuscheliges Hüttentschecherl auf dem Hauptplatz von Uzdin. „Sechs Personen“steht auf dem Aushang, ich gehe als Nummer elf raus. Ein alter Schmuggler erzählt mir sein Leben. Seine Pandemietheorie ist eine konspirative Geisterbahn: „Die Rockefellers entführen Kinder und trinken Blut.“
Der Zufall will es, dass mein Zimmerwirt auch Corona-Kontrollor der Gemeinde ist. Ich frage ihn nach dem Personenlimit. Er winkt ab. Ich frage ihn nach Strafen. Er winkt wieder ab, vorläufig gibt er sich mit der Einhaltung der Sperrstunde um 23 Uhr zufrieden. Um 22.20 Uhr setzt mich der Beislkontrollor in seinem Lieblingsbeisl ab. An der Bar der türkische Verlobte des Barmädchens, er stellte im Banat Windräder auf. Der Istanbuler sagt: „Lockdown ist was für reiche Länder, hier ist das vorbei.“Um 22.55 Uhr strömt die eben noch ausgelassene Partycrowd hinaus, um 23.03 marschieren maskierte Polizisten ein. Die serbische Sperrstunde ist durchsetzbar. Mehr, so mein Gefühl, nur mit Gewalt.