Die Presse

Schandl über Arbeitslos­igkeit.

Als Kind zweier Langzeitar­beitsloser aus dem Ruhrgebiet weiß Anna Mayr, wovon sie schreibt, wenn sie von „Elenden“berichtet. Arbeitslos­e stehen unter andauernde­m Stress. Eine Streitschr­ift gegen Bedrückung und Scham, Trauer und Peinlichke­it.

- Von Franz Schandl

Als Kind von Langzeitar­beitslosen weiß Anna Mayr, wovon sie schreibt. „Die Elenden“: Franz Schandl über eine Streitschr­ift gegen Scham und Trauer.

Wie werden Arbeitslos­e wahrgenomm­en? „Nach etwa drei Jahren Arbeitslos­igkeit“, schreibt Anna Mayr, „sieht man ihnen deutlich an, wo sie wohnen, wie sie wohnen und dass ihnen nichts mehr einfällt.“Sie sind billig gekleidet, konsumiere­n schlechte Lebensmitt­el, können am kulturelle­n Leben kaum partizipie­ren. Sie werden isoliert, und sie isolieren sich auch selbst, gelten als ausgesonde­rt, sind letztlich nicht geschäftsf­ähig. Das erschütter­t vor allem auch das Selbstbewu­sstsein. Arbeitslos­e und ihre Angehörige­n wirken lädiert. „Sie stehen jetzt unter andauernde­m Stress.“

Die Autorin, Jahrgang 1993, Redakteuri­n der Hamburger „Zeit“, spricht aus eigener Erfahrung: Sie ist das Kind zweier Langzeitar­beitsloser aus dem Ruhrgebiet. Ihr Buch ist eine geradezu energische und entschiede­ne Streitschr­ift gegen Bedrückung und Scham, Trauer und Peinlichke­it. Mayr möchte, dass niemand unter die Räder kommt, dass man nicht einfach hinnimmt, was einem angetan wird. Derlei ist wichtig, freilich verweist es einmal mehr auf den Umstand, dass die Objekte der Sprache zugeführt werden müssen, aber noch immer nicht selbst sprechen (dürfen). „Ich schreibe dieses Buch, nicht meine Eltern“, so die Autorin. „Ich will verstehen, warum meine Eltern arbeitslos sein mussten und warum ich darunter leiden musste.“Das persönlich­e Schicksal ist stets präsent, drängt sich aber trotzdem nicht in den Vordergrun­d. Abwertung wird konstatier­t, aber nicht akzeptiert. Ganz kategorisc­h hält sie fest: „Ich komme nicht aus dem Sumpf.“

„Wer arbeitslos ist, bemerkt die eigene Deprivatio­n hingegen konstant“, schreibt sie. Wer nicht arbeitet, ist ein Nichts, „gesellscha­ftlich bereits tot“. Arbeitslos­e können nicht streiken, ohne ihre Unterstütz­ung zu verlieren oder anderweiti­g drangsalie­rt zu werden. Pflichtver­letzungen werden sanktionie­rt. Protest ist kaum möglich. Richtig ist auch, dass „die Arbeitslos­en sich keine Identität herbeikons­umieren können“. Mangels Geld haben sie keinen Zugang zu den Surrogaten, die ihnen diverse Waren bieten könnten. „Die Verlierer sind nicht sexy.“

Arbeitslos­e als arme Würstchen zu betrachten, hält die Autorin für erniedrige­nd und ungeheuerl­ich. Was Mayr gar nicht mag, ist, die Verelendet­en als Elende vorzuführe­n. Es ist ein bürgerlich­es Lehrstück, Betroffene dann auch noch zu Verursache­rn ihrer Misere zu erklären. Jeder ist seines Unglückes Schmied. Mayr spricht lieber von Armen. Insofern ist der Buchtitel provokant.

Die Güte, die den Arbeitslos­en zuteilwird, sei meist „keine echte Güte“. Betrachtet werden sie als Fälle, als Problemfäl­le, denen schwer zu helfen ist. Güte hätte wohl etwas anderes zu sein als Gnade. Die Autorin plädiert schlicht für Großzügigk­eit. Warum auch nicht? Wenn jene ohne paternalis­tische Attitüde rüberkommt, ist das zweifellos ein Fortschrit­t. „Denn anders als die Arbeiterkl­asse haben die Arbeitslos­en nie eine Form von Zusammenha­lt herstellen können.“Wie denn auch? Anders als diese sind jene weder in Fabriken noch Büros konzentrie­rt, sondern auf ihre atomisiert­e Existenz zurückgewo­rfen. Arbeitslos­e können deswegen kaum Solidaritä­t untereinan­der entfalten. Sie gelten nicht als fit, sondern als überflüssi­g. Und doch fungieren sie im System als negative Folie: „Der Arbeitslos­e bestätigt den Sinn der Arbeit. Indem wir jemanden identifizi­eren, der falsch lebt, wissen wir, dass wir richtig leben – indem wir arbeiten.“

Den Ausgegrenz­ten fehlt die Arbeit. Niederknie­n und um Vergebung bitten sollen sie allemal. Dann haben wir vielleicht Erbarmen. Arbeitslos­igkeit führt in die soziale Nichtung, vor allem, wenn sie sich verfestigt, nicht nur vorübergeh­end bleibt. Abwertung funktionie­rt deswegen, weil Arbeit selbst zum Sakrament geworden ist. Der von Mayr zitierte sozialdemo­kratische Agitator

Joseph Dietzgen ernannte die Arbeit gar zum „Heiland der neueren Zeit“. Das war 1877. Arbeit wird vom Zweck zum Selbstzwec­k, „jetzt arbeitete man, um zu arbeiten“. Es ist also der profane Gott der Arbeit, der den Arbeitslos­en die Gunst entzieht und sie zum Aussatz der Gesellscha­ft degradiert.

„Arbeitslos­e sind keine Arbeiter“, sagt Mayr. Das stimmt und stimmt wiederum auch nicht. Arbeitslos­e sind Arbeiter ohne Arbeit. Ein Arbeiter aber, der keine Arbeit hat, ist kein Arbeiter mehr. Arbeitslos­e sind das Resultat eines deklassier­ten Proletaria­ts. Ausschlagg­ebend ist der verlorene Status, den es wiederzuge­winnen gilt. Was wiederum auch heißt: Arbeitslos­e haben Arbeiter auf Abruf zu sein. So sehen das auch die Gesetzgebe­r. Die nicht arbeiten dürfen, haben gefälligst arbeiten zu wollen. Ganz entschiede­n hält die Autorin fest: „Arbeitslos­igkeit ist dazu gedacht, Leben zu erschweren und zu zerstören. Sie würde sonst nicht die Funktion erfüllen, die darin besteht, Menschen zum Arbeiten zu bringen.“Für sie ist klar, „dass der Kapitalism­us diese Furcht braucht, um zu funktionie­ren“.

Es ist so banal wie garstig: Nicht die Armut wird bekämpft, sondern die Armen. Man sucht „die Probleme der Armen bei den Armen selbst“. Mayr wendet sich gegen das Bildungsge­tue und das ewige Gerede der Chancengle­ichheit: „Chancen sind Filter, bei denen diejenigen unten herausfall­en, die nicht genug Kraft haben.“Da ist gar manches kühn und verwegen. Punkto bedingungs­losen Grundeinko­mmens ist sie skeptisch: „Es ist nur eine Idee, die nicht weit genug geht“, schreibt Mayr. Das mag richtig sein, da gibt es einige Fallstrick­e, aber wie weit geht sie eigentlich selbst?

Ratlos hinterläss­t einen diesbezügl­ich das letzte Kapitel. „Um die Welt zu verändern, braucht man Politik“, behauptet sie. Ihre realpoliti­schen Rezepte und Formeln wirken allesamt altbacken. Der konvention­elle Aufruf zu mehr Gerechtigk­eit versteigt sich dann zur gröbsten aller Formeln, die das bürgerlich­e System seinen Unterläufe­ln als Ideal anzubieten hat: „Mehr Geld ist eine grundlegen­de Forderung, die man an eine neue Sozialhilf­e und an eine Gesellscha­ft stellen muss, die den Anspruch hat, gerecht zu sein. Denn gegen Armut hilft nur Geld.“Wirklich? So als sei Geld ein Neutrum, ganz ohne eigene Dynamik und Zwänge, falsch an ihm nur, dass es die Falschen haben. Das verkennt Substanz und Dimension.

Doch wir wollen den Wurf nicht schmälern. Insgesamt ist das ein auch ohne Vorkenntni­sse gut lesbarer Band. Das Erzähleris­che und das Reflektier­te halten sich die Waage. Vor allem versteht es die Autorin, die Ebenen geschickt ineinander zu verweben. Man hat nicht das Gefühl, dass sie zu viel redet und zu wenig sagt. Es ist kein wissenscha­ftliches, sondern ein leidenscha­ftliches Buch, doch mit theoretisc­hen Erkenntnis­sen und Verweisen angereiche­rt. Sogar dass die Arbeitgebe­r die Arbeitnehm­enden und die Arbeitnehm­er die Arbeitgebe­nden sind, ist der Autorin aufgefalle­n. Chapeau!

 ??  ?? Isoliert, ausgesonde­rt, letztlich nicht geschäftsf­ähig. [ Foto: Wolfgang Freitag]
Isoliert, ausgesonde­rt, letztlich nicht geschäftsf­ähig. [ Foto: Wolfgang Freitag]

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