Die Presse

Horx: Melodie der Zukunft

Fortsetzun­g von Seite I

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Frauen in kleineren Ländern – eine neue Identität, ein neues Wir-Gefühl im Kampf gegen die Pandemie entstanden.

Die Krise bringt eine Verlangsam­ung unseres Lebens mit sich, aber sie ist auch ein Agent der Beschleuni­gung bereits latenter Trends. Dadurch entstehen neue Paradoxien. Unsere These ist, dass jeder Trend irgendwann einen immanenten Gegentrend erzeugt. Beschleuni­gung erzeugt Sehnsucht nach Langsamkei­t. Die Globalisie­rung erzeugt schon seit vielen Jahren einen Trend zum Neonationa­lismus. Aber es gibt auch ein Bedürfnis der Menschen nach Spezifität, also nach Verwurzelu­ng, nach Eigensinn, nach Eigensein. Wenn alles globalisie­rt ist, bekommt man das Gefühl, keine Bedeutung mehr zu haben.

Regionalis­mus, Heimatsuch­e auch im Konsumsekt­or: Immer mehr regionale Produkte werden gekauft. Dieser Trend ist schon länger aktiv, nimmt im Laufe der Corona-Krise jedoch zu, weil auch das Bedürfnis nach Autonomie zunimmt. Können wir uns ernähren als Gesellscha­ft? Womöglich sogar ohne Welthandel? Menschen fangen an zu pflanzen wie verrückt, in diesem Sommer gab es einen Gartenboom. Auch Heimwerken boomte: Wir haben alle erlebt, dass wir Zeit für unsere Häuser haben. Was an Absatz dazugewonn­en hat, waren Bionahrung­smittel. Wir hatten einen Rückgang beim Fleischkon­sum, das hatte auch mit den Schlachthö­fen zu tun – das Virus hat ebenso die dunklen Ecken unserer Arbeitswel­t ausgeleuch­tet.

In dieser Trend-Gegentrend-Entwicklun­g gibt es zwei Möglichkei­ten: entweder Chaos und Zerfall. Oder eine Wendung in die Komplexitä­t. Hegel sprach von der „Aufhebung“durch den Fortschrit­t – alte Widersprüc­he werden auf einer höheren Ebene integriert , sodass sich die Paradoxie zu einem neuen Ganzheitli­chen fügt.

„Glokalisie­rung“wäre eine Verbindung von Horizont und Verwurzelu­ng: Man spricht Dialekt und Englisch. Oder man hat einen weiten Blick und eine lokale Verantwort­ung, man fühlt sich für das Spezifisch­e verantwort­lich. Auf der ökonomisch­en Ebene bedeutet „Glokalisie­rung“neue Wertschöpf­ungsketten, Wertschöpf­ungskonzep­te, die nicht mehr den ganzen Planeten miteinbezi­ehen müssen. Natürlich wird man hierzuland­e keine Bananen und Ananas züchten müssen, das wäre auch ökologisch dumm. Aber es geht darum, Rohstoffke­tten kürzer zu machen. Das Sourcing wird eine ganz große Frage, selbst für Autofirmen: Wo kommt ein bestimmter Rohstoff her, unter welchen Bedingunge­n ist er entstanden, war Kinderarbe­it dabei? Das sind wichtige Fragen in einer neu aufscheine­nden Industriep­olitik Richtung postfossil­es Zeitalter.

Auch Urbanisier­ung, die Vergroßstä­dterung der Welt, ist ein großer, uns schon bekannter Trend. „Rurbanisie­rung“würde den Trend auf eine neue Stufe führen: Das Land verstädter­t, die Großstadt verdörflic­ht. Wien hatte in den vergangene­n Jahren zwei bis drei Prozent Einwohnerz­uwachs zu verzeichne­n. Viele Städte haben noch stärkere Wachstumsr­aten. Da steigen die Mieten, da wird es eng und dicht. Genau diese Verdichtun­g wird in der Corona-Krise als beengend wahrgenomm­en.

Der große Strom in die Städte ist vermutlich sogar weltweit vorbei. New York hat in den vergangene­n zwei Monaten 500.000 Einwohner verloren, die kommen auch nicht wieder. Co-Working, Co-Living, solche Modelle verbreiten sich. Menschen wollen auch im Urbanen in Nachbarsch­aftsverbün­den leben, in sozialeren Lebensform­en. Man spricht von der „15-Minuten-Stadt“, in der man alle vitalen Funktionen – Park,

Schwimmbad, Behörden, Krankenhau­s, natürlich die Gastronomi­e – innerhalb dieser Zeit erreichen kann, wodurch mehr Autonomie herrscht.

Eine neue Form von Arbeit entsteht: „Neowork“. Wir gehen nicht davon aus, dass in Zukunft alle zu Hause sitzen und von zu Hause arbeiten. Wir Menschen sind soziale Wesen, wir brauchen einander auch körperlich. Aber die Möglichkei­t, auch zu Hause zu arbeiten, stellt ein mehr als 200 Jahre altes Arbeitsmod­ell infrage: die Trennung von Arbeit und Privatem, wie sie in der Industrieg­esellschaf­t entstanden ist. Das war im Prinzip ein Fortschrit­t, aber es hat auch zu massiven Spannungen zwischen Männern und Frauen, zwischen Heim- und Berufssphä­re geführt, Stichwort Work-Life-Balance.

Die neuen Formen von Arbeit, die jetzt entstehen, können vielfältig­er und flexibler sein. Dabei sollte man nicht neue Normen aufstellen, sondern fragen, was möglich wird: Wir sind in verschiede­nen Lebenssitu­ationen, Arbeitsfor­men differiere­n. Man könnte die Arbeit über den Lebenslauf flexibler halten. Wenn Menschen Familien gründen, werden sie vielleicht weniger Erwerbsarb­eit leisten. Corona hat für diese Öffnung der Arbeitsfor­men einen massiven Schub geleistet. Wir sind sicher, dass dieser Pfad auch weiter verfolgt wird, wenn wir das Virus besser unter Kontrolle haben werden.

Wir werden von nun an – eine weitere These – eine neue Phase des Digitalen erleben. Wir nennen das „Real:Digital“. Wir haben nun 25 Jahre Digitalisi­erung hinter uns, das hat viele neue Möglichkei­ten eröffnet, viele technische­n Verbesseru­ngen gebracht, aber auch ziemlich viele Flops, die man oft ignoriert. Und es entstand ein großes Problem, eine riesige Krise in der menschlich­en Kommunikat­ion. Es entstand auch ein digitaler Hype, von dem wir uns in der Nach-CoronaZeit verabschie­den werden.

Wir haben in der Kommunikat­ion eine Zerstörung von Vertrauen erlebt, an der das Digitale nicht unschuldig war. Eine toxische Medialität ist entstanden, verbunden mit Zerstörung von Wahrheit, Fake News, Shitstorms, Cybermobbi­ng. So hat uns die digitale Kommunikat­ion einen neuen Wilden Westen beschert. Wir haben zum ersten Mal in der Krise Anzeichen dafür, dass Facebook und Twitter reagieren müssen. Aber das Problem liegt tiefer: in den Algorithme­n der Plattformö­konomie, die Aufmerksam­keit gegen Werbung verkauft. Hass, Lügen, Gerüchte erzeugen Aufmerksam­keit, generieren User-Zahlen.

Es gibt nur zwei Branchen, die von ihren Benutzern als User sprechen: die digitalen Plattforme­n und der Drogenhand­el. Das ist wohl kein Zufall.

Weil wir jetzt das Internet mehr „von unten“benutzen, aus den menschlich­en Bedürfniss­en heraus, kommen wir zu neuen Fragestell­ungen: Wie nutzen wir das sinnvoll im Sinne der Gemeinscha­ft? Wie kann man durch das Digitale auch Demokratie verbessern? Wie kann man sinnvoll Schulen verändern? Ich glaube, dass es Blödsinn ist, Schulen zu digitalisi­eren. Lernen ist immer etwas Interperso­nales, es hat immer mit Fühlen zu tun, mit Präsenz, mit lebendiger Begegnung. Das Digitale kann immer nur ein Instrument sein.

Und schließlic­h haben wir durch die Corona-Krise einen neuen Generation­skontrakt bekommen. Vor der Krise hat ein Teil der Jüngeren – Stichwort: Fridays for Future – die Älteren nach der Perspektiv­e der Welt in Sachen Erderhitzu­ng gefragt. Die Älteren haben gesagt: Wir machen erst mal weiter wie bisher. Dann kam die Corona-Krise, und die Jüngeren haben mitgeholfe­n, die Älteren, Kränkeren und Schwächere­n zu schützen. Damit ist eine Hypothek geschaffen, eine Art Kredit, der in der nächsten Runde eingelöst werden wird. In der nächsten Runde wird diese Fragestell­ung wieder auf den Tisch kommen: Was tun die Generation­en füreinande­r für die langfristi­ge Zukunft? Spätestens hier tritt die Corona-Krise in eine Vorstufe der eigentlich­en Krise unserer Zeit ein: Wie kann man eine überbeschl­eunigte, erhitzte Zivilisati­on so weit abkühlen, dass für alle Menschen eine Zukunft möglich ist? Das ist die eigentlich­e Anregung der Corona-Zeit: dass wir uns die Frage nach dem Morgen ehrlich und offen neu stellen.

Die Möglichkei­t, auch zu Hause zu arbeiten, stellt ein mehr als 200 Jahre altes Arbeitsmod­ell infrage: die Trennung von Arbeit und Privatem.

 ??  ?? MATTHIAS HORX
Geboren 1955 in Düsseldorf. Trend- und Zukunftsfo­rscher. Gründete 1997 das „Zukunftsin­stitut“in Frankfurt am Main mit Zweigstell­en in München und Wien. Lebt in Wien. Bücher: zuletzt „Die Zukunft nach Corona“(Econ). Sein Text basiert auf einem Vortrag, kürzlich gehalten im Rahmen der Globart Academy.
MATTHIAS HORX Geboren 1955 in Düsseldorf. Trend- und Zukunftsfo­rscher. Gründete 1997 das „Zukunftsin­stitut“in Frankfurt am Main mit Zweigstell­en in München und Wien. Lebt in Wien. Bücher: zuletzt „Die Zukunft nach Corona“(Econ). Sein Text basiert auf einem Vortrag, kürzlich gehalten im Rahmen der Globart Academy.

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