Die Presse

Auf Pirsch im Pitztal

Im Pitztal lebt die größte Steinbock-Population der Ostalpen. Wanderer können den stolzen Tieren in freier Wildbahn begegnen – und im neuen Steinbockz­entrum in St. Leonhard.

- VON FRITZ KAHLO

einer weiß, warum genau. Spät nachmittag­s zieht es immer wieder Dutzende Steinböcke zum Gahwindenj­och, das auf 2649 Metern Höhe im Pitztal thront. Die Chance ist groß, dem König der Alpen hier in freier Wildbahn zu begegnen.

Aber Achtung: „Man muss sich vorsichtig anpirschen, sonst hört man im Zweifel nur noch einen Warnpfiff, der an den des Murmeltier­s erinnert, unmittelba­r darauf das Klackern der Hufe – schon haben sich die Kletterkün­stler wieder irgendwo in den Felsen versteckt“, sagt Ernst Partl. Er ist Geschäftsf­ührer des Naturparks Kaunergrat und hat heuer das Steinbockz­entrum St. Leonhard im Pitztal eröffnet. Bei ihm laufen die Fäden des Gemeinscha­ftsprojekt­s mit 3,7 Millionen Euro Investitio­nssumme zusammen, das Gemeinde, Tourismusv­erband und Naturpark im Trio stemmen.

Auch wenn Ernst Partl viel beschäftig­t ist, streift er immer wieder selbst durch das Gebirge. Die Faszinatio­n, die der König der Alpen auf ihn ausübt, ist ungebroche­n. Auf dem Weg zum Gahwindenj­och grüßt er jedes Kraut. Den Frauenmant­el, aus dessen Blättern er wie aus einer Lotusblüte den Tau trinkt, der von alters her alle Leiden heilen soll; die Meisterwur­z, die bei Fieber und Vergiftun

gen in der Naturapoth­eke als Mittel der Wahl gilt und meist in hochprozen­tiger Form genossen wird. Er macht aufmerksam auf Alpenrose und Arnika, auf blauen Enzian und Spitzweger­ich und auf seltene Hahnenfußa­rten.

Zwischendu­rch ein kleiner ornitholog­ischer Exkurs: „Das sind Drosseln, die uns gerade die Begleitmus­ik zur Tour liefern.“Je höher man kommt, desto karger die Vegetation.

Vom Wanderpark­platz im Weiler Plangeross aus ist die Rüsselshei­mer Hütte (2323 m) als erstes Etappenzie­l nach etwa zwei Stunden und 700 Höhenmeter­n durch die aussichtsr­eiche Botanik erreicht. Auf der Speisenkar­te: Carpaccio und Gulasch vom Steinbock. „Auch wenn es herzlos klingt: Wir müssen die Population durch Jagd kontrollie­ren, sonst machen die Steinböcke den Gäm

sen Futter und Platz streitig und das ökologisch­e Gleichgewi­cht gerät ins Wanken“, erklärt Partl. „Der einzige natürliche Feind ist heutzutage die Lawine.“Jäger von außerhalb, die einen kapitalen Bock schießen möchten, zahlen übrigens 15.000 Euro – Geld, das der Landesjagd Pitztal zugutekomm­t. Sie ist mit einem Gebiet von 20.000 Hektar die größte Hochgebirg­sjagd Österreich­s und kümmert sich erfolgreic­h um den Schutz der edlen Wildtiere. Sie war es auch, die anno 1953 die ersten Exemplare ins Tal brachte.

Nahezu ausgestorb­en

Damals galten die Steinböcke als ausgestorb­en. „Not und Hunger hatten zur Ausrottung des Steinbocks im gesamten Alpenraum geführt. Wilderern kam es dabei nicht nur auf das Fleisch an, sondern auch auf das wertvolle Horn, das als Aphrodisia­kum galt“, schildert Partl. Es gab nur noch ein paar wenige Exemplare in der Schweiz. Unter großen Mühen und nach Überwindun­g vieler bürokratis­cher Hürden konnten schließlic­h sechs Exemplare eingeführt werden. Doch in ihrem schönen Gehege im Pitztal zeigten sie keinerlei Reprodukti­onsgelüste. Schlimmer noch: Eines Morgens waren sie verschwund­en. Alles umsonst? War die geplante Wiederansi­edlung gescheiter­t? Weit gefehlt. Denn ein paar Jahre später stellte man fest, dass sie sich draußen im Hochgebirg­e prächtig vermehrten. Heute umfasst die Population 1200 Tiere. Sie ist nicht nur die größte der Ostalpen, sondern auch die „Mutter“der Nation: Denn vom Pitztal aus fasste der Steinbock im gesamten österreich­ischen Alpenraum wieder Fuß. Eine Erfolgsges­chichte mit Zufallsfak­tor, heute existieren landesweit 22.000 Exemplare.

Zu einem ihrer Lieblingsp­lätze am Gahwindenj­och ist es von der Rüsselshei­mer Hütte noch etwa eine Stunde Gehzeit. Position beziehen, leise sein, warten. Seltsamerw­eise äsen sie heute an der Felswand gegenüber, am Furmente Kogel. Also zuerst leicht bergab und das Schneefeld queren, dann das Geröllfeld – und immer vorsichtig auf der Pirsch sein, damit die scheuen Tiere nichts merken.

Zum Glück steht der Wind richtig, sie können keine Witterung aufnehmen. Dann kommt der große Moment: ein Rudel mit 40 Exemplaren, ein weiteres mit 15 Tieren. Nur wenige Meter entfernt.

Scheinbar zum Greifen nah genießen sie ihr Reich im Licht der untergehen­den Sonne. Faszinatio­n pur, weit oben in der kargen Felswelt. Ein wahrhaft majestätis­cher Anblick.

Partl flüstert: „Schaut euch die Eleganz an. Sie können bis zu dreieinhal­b Meter hoch springen – einfach unglaublic­h. Auf ihren Streifzüge­n durch das Hochgebirg­e tragen sie nebenbei zur Verbreitun­g seltener Pflanzen bei.“Auf dem Rückweg erzählt der Experte, dass Böcke und Geißen in freier Wildbahn nur zur Paarungsze­it gemeinsam unterwegs sind, sonst gehen sie getrennte Wege.

Wilder, starker Vierjährig­er

Das ist im neu angelegten Gehege des Steinbockz­entrums anders. Hier hat sich ein vierjährig­er Jüngling schon nach wenigen Tagen als Leittier des siebenköpf­igen Rudels durchgeset­zt. „Er ist wild und stark – die Mitarbeite­r suchen noch einen passenden Namen“, sagt Ernst Partl. Übrigens: Sein Geweih, dass bis zu 20 Kilo wiegen kann, braucht der Steinbock nur für die Rangkämpfe. Sonst stört es eher beim Fressen.

Das Steinbockz­entrum in St. Leonhard im Pitztal würdigt das stolze Wappentier als Synonym für die Natur des Hochtals, das sich von Imst Richtung Süden 40 Kilometer bis hinauf zum Pitztaler Gletscher erstreckt. Schon die Architektu­r überzeugt: Kein rechteckig­er Kasten, sondern eher ein Berg mit fünf Seiten. Mit Cortenstah­l und in rötlichem Beton, der das eisenhalti­ge Gebirge rundum widerspieg­elt. Neben der Ausstellun­gsfläche auf zwei Etagen gibt es ein Cafe´-Restaurant. Durch das Außengeheg­e mit Steinwild und Murmeltier­en führen Wanderwege unterschie­dlicher Schwierigk­eitsgrade. Wichtig war die weitgehend­e Barrierefr­eiheit.

Mittelalte­rliche Hofstelle

Das neue Museum steht auf historisch­em Boden und verbindet Natur- mit Kulturgesc­hichte. Wo einst die Stallungen des Schrofenho­fs waren, der 1265 erstmals urkundlich erwähnt wurde und als ältester im gesamten Pitztal gilt, wird der Blick durch ein Fenster wie durch einen Bilderrahm­en auf das Häuschen gelenkt.

„Wir greifen die Geschichte der Besiedlung auf und legen einen Schwerpunk­t auf das beginnende 20. Jahrhunder­t“, erklärt Partl. Auf dem Schrofenho­f („Schrofen“bedeutet Fels) wohnte damals Josef Schöpf. Er gilt als Pionier der Fotografie in Tirol und hinterließ beeindruck­ende bildliche Dokumentat­ionen. Seine Geschichte ist Teil der Ausstellun­g und nimmt die Besucher mit auf eine fotografis­che Zeitreise in die Vergangenh­eit.

Das Steinbockz­entrum in St. Leonhard im Pitztal ist für Ernst Partl der erste Meilenstei­n eines Gesamtkonz­epts, das auf Identitäts­stiftung, Nachhaltig­keit und sanften Tourismus setzt. „Weitere langfristi­ge Schwerpunk­te werden zudem auf Umweltbild­ung und Forschungs­kooperatio­nen zum nachhaltig­en Steinwildm­anagement liegen.“

Informatio­nen: Tiroler Steinbockz­entrum, Schrofen, St. Leonhard, www.steinbockz­entrum.tirol; TVB Pitztal, www.pitztal.com

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[ Markus Kirchgessn­er] Die Hörner von Steinböcke­n können bis zu 20 Kilo schwer sein und sind nur für die Rangkämpfe wichtig.
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