Und seid ihr nicht willig . . .
Zwang. Auch wenn die Regierung beteuert, sie setze auf Freiwilligkeit: Die Massentests werden nicht ohne sozialen Druck über die Bühne gehen, und das Thema Impfpflicht steht im Raum. Was sagen Ethiker dazu?
Das geht mir unter die Haut: Das sagen wir, wenn uns etwas stark bewegt. Auch staatliche Zwangsmaßnahmen erleben wir umso bedrohlicher, je näher sie uns „auf die Pelle rücken“. Wenn Lokale und Läden schließen müssen, nicken wir es eine Zeit lang ab. Stärker sträuben wir uns gegen die Vorstellung, dass die Polizei in unsere Wohnung eindringt. Und am sensibelsten reagieren wir, wenn es um den eigenen Körper geht. Folter gilt als Tabu, selbst wenn sich mit einem erzwungenen Geständnis viele Menschenleben retten ließen. Es schockiert uns, dass man in der DDR Gefangenen unter Zwang Blut abzapfte und es in den Westen verkaufte – auch wenn die Betroffenen den Aderlass weniger schlimm erlebt haben dürften als andere Repressalien. Noch harmloser scheint Impfen zu sein: ein kleiner Stich, man spürt ihn kaum, er hält mich gesund und schützt die anderen. Aber ihn zu erzwingen, weckt diffuses Unbehagen, rabiaten Widerstand.
Was Impfgegner ins Treffen führen, mag irrational sein, ein Produkt aus Filterblasen und Verschwörungstheorien. Aber dahinter steckt eine ernst zu nehmende Intuition: Man nimmt uns die Freiheit, und das geht unter die Haut.
Aus gutem Grund haben Politiker das Thema bisher gemieden. Aber nun liegt es auf dem Tisch, indirekt, durch die Covid-19-Massentests. Sie seien freiwillig, beteuert die Regierung. Aber Zwang kennt viele Formen. In der Slowakei, die als Vorbild dient, durfte niemand mehr ohne negatives Testergebnis auf die Straße. Auch deshalb standen die Bürger stundenlang Schlange für Nasenabstriche. Bei uns ist sozialer Druck zu erwarten, etwa durch Vorgesetzte. Ob die Maßnahme wirksam ist, bleibt umstritten. Auf jeden Fall sammelt man damit logistische Erfahrung, für eine hoffentlich bald mögliche Covid-Impfaktion. Die FPÖ wittert prompt einen „Testlauf für Zwangsimpfungen“. Ein Volksbegehren „Für Impf-Freiheit“findet Gehör. Gesundheitsminister Anschober verspricht Zwanglosigkeit. Aber er hat auch im Oktober einen zweiten Lockdown ausgeschlossen. Die Glaubwürdigkeit hat gelitten, die Skepsis ist groß, die Stimmung gereizt.
Da lohnt ein Blick auf das, was Bioethiker in Ruhe erarbeitet haben, für die Masernimpfung. Die Weisen könnten es sich ja leicht machen und sagen: Es geht ums Gemeinwohl, eine immunisierte Bevölkerung ist ein öffentliches Gut. Dass dafür jeder seinen Beitrag leistet, erklären wir zur moralischen Pflicht – und seid ihr nicht willig, so brauche der Staat eben ein wenig Gewalt. Sie stehe ja in keinem Verhältnis zum Segen, eine Krankheit zu besiegen.
Das wäre konsequent utilitaristisch gedacht: Nur die Glückssumme soll den Gesetzgeber leiten. In Fernost denkt man oft tatsächlich so. In Europa aber wirkt die Ethik Kants nach: Freiheit und Würde des Einzelnen dürfen keinem kollektiven Ziel geopfert werden. Priorität haben die Abwehrrechte gegen den
Staat: körperliche Unversehrtheit und Autonomie beim Impfen, Bewegungsfreiheit bei Massentests. Eingriffe müssen gut begründet sein, um sich moralisch zu legitimieren. Vor allem „verhältnismäßig“– und hier scheiden sich die Geister. Bei den Pocken war es noch klar: Weil 30 Prozent der Infizierten an dieser Krankheit starben, mussten sich alle impfen lassen. Bei Masern ist die Sterblichkeitsrate nur 0,1 Prozent. Wie wägt man da ab? Die heimische Bioethikkommission hat im Vorjahr für eine Pflichtimpfung votiert. Der deutsche Ethikrat war dagegen: Menschen mit Polizeigewalt zum Arzt schleppen, Kinder traumatisieren – das wäre nicht zu rechtfertigen. Doch ein paar Arten gelinderen Zwangs seien vertretbar: dass nur geimpfte Kinder in die Krippe dürfen. Oder dass Ärzte, Pflegerinnen und Lehrer sich impfen lassen müssen, weil die Sorge um ihre Schutzbefohlenen zum Berufsethos gehört. Ein Mitglied lehnte die Ausnahmen per Sondervotum ab.
Was zeigt: Auch Experten fehlt die fertige Antwort. Wir müssen als Staatsbürger abwägen, auch bei Covid-19, bei dem die Mortalität höher liegt als bei Masern, aber weit niedriger als bei Pocken. Wir sollten uns aber auch fragen: Wie reif sind wir als Gesellschaft, wenn unser kritischer Geist erst beim Impfzwang erwacht? Angst um die eigene Gesundheit, Sorge um Gefährdete, die uns nahestehen: Das hat uns heuer umgetrieben. Nun sollten wir unsere Empathie nicht enger, sondern weiter fassen: Welche Nebenfolgen haben Zwangsmaßnahmen zur Virusbekämpfung? Psychische Schäden, zerstörte wirtschaftliche Existenzen, die Schuldenlast für künftige Generationen. Vor allem aber, dass durch Lockdown-Rezessionen bei uns Millionen indirekte Opfer in Entwicklungsländern drohen, wo Menschen in extreme Armut zurückfallen und sterben, an Hunger oder weil sie sich keinen Arzt mehr leisten können. Auch wenn das nicht unsere Nächsten betrifft, sondern die Fernsten: Es sollte uns nahegehen. Mehr noch: unter die Haut.