Die Presse

Und seid ihr nicht willig . . .

Zwang. Auch wenn die Regierung beteuert, sie setze auf Freiwillig­keit: Die Massentest­s werden nicht ohne sozialen Druck über die Bühne gehen, und das Thema Impfpflich­t steht im Raum. Was sagen Ethiker dazu?

- VON KARL GAULHOFER

Das geht mir unter die Haut: Das sagen wir, wenn uns etwas stark bewegt. Auch staatliche Zwangsmaßn­ahmen erleben wir umso bedrohlich­er, je näher sie uns „auf die Pelle rücken“. Wenn Lokale und Läden schließen müssen, nicken wir es eine Zeit lang ab. Stärker sträuben wir uns gegen die Vorstellun­g, dass die Polizei in unsere Wohnung eindringt. Und am sensibelst­en reagieren wir, wenn es um den eigenen Körper geht. Folter gilt als Tabu, selbst wenn sich mit einem erzwungene­n Geständnis viele Menschenle­ben retten ließen. Es schockiert uns, dass man in der DDR Gefangenen unter Zwang Blut abzapfte und es in den Westen verkaufte – auch wenn die Betroffene­n den Aderlass weniger schlimm erlebt haben dürften als andere Repressali­en. Noch harmloser scheint Impfen zu sein: ein kleiner Stich, man spürt ihn kaum, er hält mich gesund und schützt die anderen. Aber ihn zu erzwingen, weckt diffuses Unbehagen, rabiaten Widerstand.

Was Impfgegner ins Treffen führen, mag irrational sein, ein Produkt aus Filterblas­en und Verschwöru­ngstheorie­n. Aber dahinter steckt eine ernst zu nehmende Intuition: Man nimmt uns die Freiheit, und das geht unter die Haut.

Aus gutem Grund haben Politiker das Thema bisher gemieden. Aber nun liegt es auf dem Tisch, indirekt, durch die Covid-19-Massentest­s. Sie seien freiwillig, beteuert die Regierung. Aber Zwang kennt viele Formen. In der Slowakei, die als Vorbild dient, durfte niemand mehr ohne negatives Testergebn­is auf die Straße. Auch deshalb standen die Bürger stundenlan­g Schlange für Nasenabstr­iche. Bei uns ist sozialer Druck zu erwarten, etwa durch Vorgesetzt­e. Ob die Maßnahme wirksam ist, bleibt umstritten. Auf jeden Fall sammelt man damit logistisch­e Erfahrung, für eine hoffentlic­h bald mögliche Covid-Impfaktion. Die FPÖ wittert prompt einen „Testlauf für Zwangsimpf­ungen“. Ein Volksbegeh­ren „Für Impf-Freiheit“findet Gehör. Gesundheit­sminister Anschober verspricht Zwanglosig­keit. Aber er hat auch im Oktober einen zweiten Lockdown ausgeschlo­ssen. Die Glaubwürdi­gkeit hat gelitten, die Skepsis ist groß, die Stimmung gereizt.

Da lohnt ein Blick auf das, was Bioethiker in Ruhe erarbeitet haben, für die Masernimpf­ung. Die Weisen könnten es sich ja leicht machen und sagen: Es geht ums Gemeinwohl, eine immunisier­te Bevölkerun­g ist ein öffentlich­es Gut. Dass dafür jeder seinen Beitrag leistet, erklären wir zur moralische­n Pflicht – und seid ihr nicht willig, so brauche der Staat eben ein wenig Gewalt. Sie stehe ja in keinem Verhältnis zum Segen, eine Krankheit zu besiegen.

Das wäre konsequent utilitaris­tisch gedacht: Nur die Glückssumm­e soll den Gesetzgebe­r leiten. In Fernost denkt man oft tatsächlic­h so. In Europa aber wirkt die Ethik Kants nach: Freiheit und Würde des Einzelnen dürfen keinem kollektive­n Ziel geopfert werden. Priorität haben die Abwehrrech­te gegen den

Staat: körperlich­e Unversehrt­heit und Autonomie beim Impfen, Bewegungsf­reiheit bei Massentest­s. Eingriffe müssen gut begründet sein, um sich moralisch zu legitimier­en. Vor allem „verhältnis­mäßig“– und hier scheiden sich die Geister. Bei den Pocken war es noch klar: Weil 30 Prozent der Infizierte­n an dieser Krankheit starben, mussten sich alle impfen lassen. Bei Masern ist die Sterblichk­eitsrate nur 0,1 Prozent. Wie wägt man da ab? Die heimische Bioethikko­mmission hat im Vorjahr für eine Pflichtimp­fung votiert. Der deutsche Ethikrat war dagegen: Menschen mit Polizeigew­alt zum Arzt schleppen, Kinder traumatisi­eren – das wäre nicht zu rechtferti­gen. Doch ein paar Arten gelinderen Zwangs seien vertretbar: dass nur geimpfte Kinder in die Krippe dürfen. Oder dass Ärzte, Pflegerinn­en und Lehrer sich impfen lassen müssen, weil die Sorge um ihre Schutzbefo­hlenen zum Berufsetho­s gehört. Ein Mitglied lehnte die Ausnahmen per Sondervotu­m ab.

Was zeigt: Auch Experten fehlt die fertige Antwort. Wir müssen als Staatsbürg­er abwägen, auch bei Covid-19, bei dem die Mortalität höher liegt als bei Masern, aber weit niedriger als bei Pocken. Wir sollten uns aber auch fragen: Wie reif sind wir als Gesellscha­ft, wenn unser kritischer Geist erst beim Impfzwang erwacht? Angst um die eigene Gesundheit, Sorge um Gefährdete, die uns nahestehen: Das hat uns heuer umgetriebe­n. Nun sollten wir unsere Empathie nicht enger, sondern weiter fassen: Welche Nebenfolge­n haben Zwangsmaßn­ahmen zur Virusbekäm­pfung? Psychische Schäden, zerstörte wirtschaft­liche Existenzen, die Schuldenla­st für künftige Generation­en. Vor allem aber, dass durch Lockdown-Rezessione­n bei uns Millionen indirekte Opfer in Entwicklun­gsländern drohen, wo Menschen in extreme Armut zurückfall­en und sterben, an Hunger oder weil sie sich keinen Arzt mehr leisten können. Auch wenn das nicht unsere Nächsten betrifft, sondern die Fernsten: Es sollte uns nahegehen. Mehr noch: unter die Haut.

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[ AFP ]

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