Lernen nach dem Terror
Wie wurde der Terroranschlag vom 2. November in der Herkunftsregion der Familie des Täters wahrgenommen? Und wie viel wissen wir über migrantische Lebenswelten, historische und kulturelle Verhältnisse in den Ländern, aus denen unsere Zuwanderer kommen? Na
Reaktionen auf den Terroranschlag in der Herkunftsregion des Täters.
Eine der ersten Fragen, die sich nach dem Terroranschlag in Wien stellten, lautete: Wer macht so etwas? Was motiviert diese Menschen? Man tippte rasch auf Islamisten, aber es gab zunächst kein Bekennerschreiben, niemanden, der sich für die Tat rühmte und sie für sich beanspruchte. Bald bestätigte sich aber der islamistische Hintergrund, ebenso die Herkunft des Täters: Doppelstaatsbürger, Österreicher und Nordmazedonier.
Genauere Recherchen ergaben, dass der Täter als Kind einer Gastarbeiterfamilie aus einem albanischen Dorf nahe Tetovo vor 20 Jahren in Österreich geboren wurde. Ein junger Mann also, der offensichtlich in Wien ins islamistische Milieu geraten war. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien, noch viel stärker als in Österreich wurde die Herkunft des Täters in Nordmazedonien, im Kosovo und in Albanien debattiert, jedes Detail, auch wenn es noch so spekulativ war, zirkulierte im Netz.
Bestürzung, Sensationslust, Häme und Empörung waren die vorherrschenden Reaktionen, die sich aus dieser Flut an Nachrichten herauslesen ließen. Bestürzung herrschte unter Albanern, dass jemand der „Ihren“eine solche Tat begeht, Sensationslust, weil viele alles zu wissen glaubten und sich darin überboten, auch die privatesten Details über den Täter, seine Familie und seine Herkunft zu verbreiten. Empörung kam von den „eigenen Leuten“, aber vor allem von den anderen, den ethnischen „Kontrahenten“.
Für viele Nordmazedonier bestätigte sich, was sie mitunter öffentlich, oft aber hinter vorgehaltener Hand, sagen: Die Albaner in ihrem Land driften mehr und mehr ins islamistische Milieu ab, und es sei nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis so etwas passieren würde. Dass der Anschlag in Wien passierte und nicht in Skopje, in Tetovo oder in Gostivar und dass der Täter Nordmazedonien, wenn überhaupt, nur ein paar Mal aufgesucht hatte, spielte dabei keine Rolle. Entscheidend war die Herkunft des Täters aus dem muslimisch-albanischen Milieu, denn ein mazedonischer Migrant hätte so etwas nie gemacht.
Empörung herrschte auch über den Schaden, der dem Ansehen Nordmazedoniens zugefügt wurde. Das Land befindet sich auf dem Weg in Richtung EU, eine so ungeheuerliche Tat unterminiere alle Anstrengungen, Teil Europas zu werden. Sogar in liberalen akademischen Kreisen zirkulierten die wüstesten chauvinistischen Vorurteile gegen „die Albaner“.
Empörung gab es aber auch unter Albanern, insbesondere über die Berichterstattung, die „die Albaner“in Sippenhaft nahm. Besonders schlimm sind diese ethnischen Zuschreibungen für Albaner aus Albanien. Albaniens Diktator Enver Hoxha hatte in den 1960er-Jahren den Atheismus zur Staatsreligion gemacht, alle Kirchen und Moscheen geschlossen, zerstört oder umgewidmet. Die Generation der Nachgeborenen ist ohne Religion aufgewachsen und mit der Idee, dass man in erster Linie Albaner oder Albanerin sei und erst in zweiter Instanz Mitglied einer Religionsgemeinschaft (Albanien war konfessionell dreigeteilt in Muslime, Orthodoxe und Katholiken).
Interkonfessionelle Toleranz wird in Albanien hochgehalten, die vielen Tabus bis hin zum Eheverbot, die für die islamische Lebensweise kennzeichnend sind, werden unter Zuwanderern aus Albanien kaum praktiziert. Für diese urbane Schicht war es leichter, in Österreich Fuß zu fassen, zumindest sind weltanschauliche Konflikte im Zusammenhang mit der vermeintlich schwierigen interkonfessionellen Akzeptanz deutlich weniger scharf akzentuiert. In ihren
Kreisen empörte man sich auch darüber, dass die Herkunft des Täters so sehr in den Mittelpunkt gestellt wurde, zumal – und das wird vor allem betont – der junge Mann in Wien geboren und hier aufgewachsen war. Außerdem besaß er, anders als viele Migranten, die österreichische Staatsbürgerschaft. Die Verantwortung für seine Entgleisung liege also nicht in seiner Abstammung, die zufällig albanisch sei, sondern am schwierigen Umfeld in Österreich als Kind einer migrantischen Familie.
Ähnlich sehen das auch viele Albaner aus dem Kosovo und aus Nordmazedonien, die zudem die Grenzen genau erkennen, die zwischen einer islamischen und einer islamistischen Lebensweise bestehen. Viele von ihnen leben und respektieren ihre muslimische Zugehörigkeit, wollen aber in keiner Weise mit islamistischen Positionen in Beziehung gebracht werden. Für diese Gruppe ist die Tatsache, dass der Attentäter „einer der Ihren“war, noch schmerzhafter, weil sie fürchten, dass sie nun stärker als bisher aufgrund ihrer albanischmuslimischen Identität diskreditiert werden könnten. Erleichternd für viele Albaner in dieser Schulddebatte ist die Tatsache, dass auch eines der Opfer albanischer Herkunft ist, noch dazu aus Nordmazedonien. Das zeigt, dass Terrorismus alle trifft, egal woher man kommt und welcher Religion man angehört. Dass ein Palästinenser und zwei Türken bei der Bergung eines angeschossenen Polizisten und beim Schutz bedrohter Mitbürger eine entscheidende Rolle spielten, kommt dabei ebenso zum Tragen. Auch diese nationalen Konnotationen wurden von den Regierungen der Herkunftsländer dieser Männer medial ausgeschlachtet und von Nationalisten missbraucht.
Dazu gesellte sich noch eine weitere Facette, dass nämlich drei der Polizisten, die im Einsatz an vorderster Front aktiv waren, kosovoalbanischer Abstammung sind. Darunter auch eine junge Frau, deren Konterfei in Windeseile durch die albanischen sozialen Medien eilte, von Albanern als Heldin gefeiert: weiblich, sympathisch und Teil der hiesigen Ordnungsmacht. Diese Gesichter, dasjenige des Opfers und das der Polizistin und der Polizisten, wurden zu Belegen für die exemplarische Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der Albaner. Dass auch diese Menschen in Österreich sozialisiert wurden und mit ihrer Herkunft nicht mehr in Beziehung zu bringen sind, rückte dabei in den Hintergrund.
Albaner waren somit auf allen Seiten involviert, zumindest mit Blick auf ihre Herkunft. Das verweist auf die Bedeutung von Familie, Verwandtschaft und sozialem Umfeld, aus dem die Migranten stammen. Kaum jemand aus der albanischen Community würde die Bedeutung von Familie für die Sozialisierung des Einzelnen infrage stellen, so wie das viele in westlichen Gesellschaften tun, wo Prozesse der Individualisierung und vor allem Singularisierung seit den 1960er-Jahren ein verbreitetes Phänomen sind. Aber Familie, und hier kommt die Forschung ins Spiel, durchläuft, vergleichend betrachtet, nicht nur zeitlich unterschiedliche Entwicklungen, sondern weist auch strukturell divergierende Merkmale auf. Und aus der langjährigen historischen Familienforschung lassen sich auch wichtige Schlüsse ziehen, die für das Verständnis von migrantischen Milieus von großem Wert sind.
Ein Konnex, der bisher jedoch erst schwach untersucht ist, ist jener zwischen Familie und Migration. Dazu erfährt man mitunter mehr aus der Belletristik als aus der Forschung. So enthält etwa das kürzlich erschienene Buch von Sandra Gugic,´ „Zorn und Stille“, über eine jugoslawische Gastarbeiterfamilie in Wien reichhaltiges fiktionales Material, das tiefe Einblicke in Familie, Gesellschaft und migrantische Lebensweisen bietet und auch für die Forschung anregende Aspekte enthält.
Ein zentrales Thema, das dabei zur Sprache kommt, ist der Konflikt zwischen den Generationen, zwischen jenen, die noch in jugoslawischer Zeit nach Österreich gekommen sind und eigentlich vorhatten, wieder zurückzukehren, und ihren Kindern, die oft ohne große Planung und ohne Bedachtnahme auf soziale und kulturelle
Albaner empörten sich über die Berichterstattung, die „die Albaner“in Sippenhaft nahm, obwohl der Täter doch in Wien aufgewachsen war.
Konsequenzen in Österreich zur Welt kamen und hier, oft alleingelassen, versuchen, einen Weg zu finden, den eigenen und den Ansprüchen der Eltern gerecht zu werden. Über diese Auseinandersetzungen, die innerhalb von Familien stattfinden, zwischen Generationen, aber auch zwischen den Geschlechtern, weiß man wenig, nicht zuletzt weil es eine Lebensmaxime der Elterngeneration war, nicht aufzufallen, nach Möglichkeit unsichtbar zu bleiben – auch aus Furcht vor Diskriminierung –, und weil man dachte, dass man in Österreich nur Gaststatus besitzt (euphemistisch ausgedrückt).
Umso schwieriger wurde und wird es dann für die hier geborenen Kinder, sich zurechtzufinden. Viele beginnen sich erst in der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter damit auseinanderzusetzen, woher sie kommen, worin die Ursachen liegen, dass sie in Österreich leben, wohin sie „eigentlich“gehören, und was die Gesellschaft ihnen hier als Möglichkeiten bietet oder vorenthält. Noch schwieriger gestalten sich die Identitätskrisen bei Flüchtlingen und jenen Jugendlichen, deren Eltern geflohen sind oder vertrieben wurden. Hier kommen die traumatischen Erfahrungen des Krieges hinzu, die zumeist nicht aufgearbeitet wurden (und deshalb häufig in nationalistischen FreundFeind-Schemata ausgetragen werden).
Diese Auseinandersetzungen finden nicht nur im gesellschaftlichen Spannungsfeld statt, sondern oft innerhalb von Familien und in Opposition zu den Eltern. Man will nicht mehr überangepasst sein, man möchte eine Rolle spielen, wahrgenommen werden, dazugehören. Für manche verunsicherte Existenzen werden dann dogmatische oder fundamentalistische Gruppierungen zu einer Stütze und zu einer neuen Heimat, die Zugehörigkeit, Solidarität und emotionale Verbundenheit herstellt. Die kann islamistisch sein und in diesem Segment auch noch gewaltbereit (nicht aller Islamismus predigt Gewalt), sie kann aber auch nationalistisch werden.
Der Ethnonationalismus egal welcher Prägung weist dieselben Attribute der Intoleranz gegenüber Andersgläubigen/-denkenden auf wie der religiöse Fundamentalismus. Die islamistische Gefahr geht dort darüber hinaus, wo sie messianisch ist und die Menschheit als Ganzes im Visier hat – das macht den Islamismus noch gefährlicher als den Nationalismus. Es ist aber irreführend zu glauben, dass der religiöse Fundamentalismus mit Nationalismus effektiv bekämpft werden könnte (außer man opfert die Errungenschaften der demokratisch-liberalen Gesellschaft). All diesen Phänomenen ist zu eigen, dass sie nur unter Bedachtnahme translokaler und transnationaler Zusammenhänge verstanden werden können. Die Ereignisse von Wien lösten in Nordmazedonien interethnische Verstimmungen aus, sie veranlassten den IS, das Attentat für sich zu reklamieren, sie inspirierten den türkischen Präsidenten dazu, „seine“Helden zu ehren, und sie schufen in Österreich das Gefühl, die Kontrolle über die Ereignisse im eigenen Land verloren zu haben. Auch die Nachkommen vieler Zuwanderer sind weder hier noch dort zu Hause. Nicht selten ist es so, dass sie dort, wo sie herkommen, als Österreicher, Deutsche oder Schweizer betrachtet werden und sich auch so gerieren, während sie in den Ländern, in denen sie leben, Fremde bleiben.
Bescheidenes Wissen
Was die Ereignisse von Wien darüber hinaus verdeutlichen: dass die Öffentlichkeit, die Medien und die verantwortlichen Institutionen nur ein sehr bescheidenes Wissen über migrantische Lebenswelten, transnationale Verflechtungen und historische, soziale und kulturelle Verhältnisse in den Herkunftsländern von Zuwanderern besitzen. Forschungen, die in den vergangenen Jahren über Islam und Nationalismus in Nordmazedonien, Kosovo und Albanien durchgeführt wurden, könnten dazu ertragreiche Informationen liefern wie Studien über Migration und Nationalismus, über translokale migrantische Netzwerke oder etwa über Partizipationsräume und Migrationsbiografien zugewanderter Roma in Wien. Konkrete Beispiele: das jüngst gestartete Projekt über Vereine aus Nordmazedonien in Wien sowie Forschungen über die Wiener Friedhofsgärtner aus dem albanisch-mazedonischen Dorf Veleshta in Österreich, aus dem zufälligerweise ein Opfer des Terroranschlags stammte.
Nach wie vor ist das Wissen um den Balkan in Wien jedoch nur rudimentär. Nicht einmal zuverlässige demografische Daten lassen sich eruieren über die Zigtausenden
Zuwanderer, die allein in den vergangenen 20 Jahren aus Südosteuropa nach Wien gezogen sind. Dazu kommen die schon älteren Communitys aus der jugoslawischen Zeit und jene, die bereits im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit zugewandert sind oder hier vorübergehend lebten. Wien war schon damals ein wichtiger Hub für Händler, Kaufleute, Arbeiter, Studierende, aber auch für Mitglieder revolutionärer Gruppierungen (Kommunisten wie Faschisten), die von hier aus die politischen Geschicke in ihren Herkunftsländern zu beeinflussen versuchten.
Das einzige Thema, das verhältnismäßig gut erforscht ist, ist die jugoslawische Gastarbeitermigration, wobei sich aber auch das Wissen über Minderheiten aus dem ehemaligen Jugoslawien (wie etwa Albaner, Aromunen, Goraner, Torbeschen, Roma) in Grenzen hält. Auch weiß man sehr wenig über den transnationalen Islam, der sich kaum verorten lässt und daher für Behörden schwer zu kontrollieren ist. Dasselbe trifft auf das Phänomen des Long Distance Natio
nalism zu, der für viele Migranten-Communitys eine Rolle spielt und zu verschiedenen Verwerfungen im sozialen und vor allem im schulischen Alltag beiträgt.
Insbesondere die Schulen sind, wie jüngste Arbeiten zeigen, zu Orten des multikulturellen Zusammenlebens, aber auch zu Orten von Auseinandersetzungen zwischen Weltanschauungen, Lebensweisen und ethnisch-kulturellen Konflikten geworden. Eine der Ursachen liegt zweifellos darin, dass unsere Lehrpläne nicht in der Lage sind, ausreichend historisches und kulturelles Wissen über die Herkunftsländer vieler Zuwanderer bereitzustellen. Wissensinhalte zielen in erster Linie auf diejenigen Bevölkerungsschichten ab, die schon über Generationen hier leben. Das führt dazu, dass junge Lehrer, auch wenn sie noch so engagiert sind, nicht über jene Kompetenzen verfügen, die erforderlich wären, um mit ihren Schülern einen kritisch-konstruktiven Diskurs über Geschichte, Herkunft, Identität und Religion führen zu können. Damit überlässt man die Deutungshoheit von Kultur und Geschichte Akteuren, die ethnozentrisches, nationalistisches und islamistisches Gedankengut verbreiten.
Diese Versäumnisse lassen sich nur mit geduldiger, kompetenter Forschung wettmachen. Dazu ist es erforderlich, Orte des sozialen Austauschs aufzusuchen und mit Betroffenen in Kontakt zu treten, nicht über sie, sondern mit ihnen Forschung zu betreiben, sie in den wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs zu holen.