Die Presse

„Wenn es um Dritte geht, agiert man viel rationaler“

„Nudging“, also „Anstupsen“, kann Menschen ohne Zwang zu einem Verhalten bewegen, erklärt Experte Axel Sonntag.

- VON IRIS BONAVIDA

Die Presse: Was kann Nudging (verhaltens­ökonomisch­e Anreize,

Anm.), was Zwang nicht kann? Axel Sonntag: Nudging ist eine softere Maßnahme. Man kann Entscheidu­ngen beeinfluss­en, ohne die rechtliche­n Rahmenbedi­ngungen zu verändern – und trotzdem zu einer Verhaltens­änderung führen. Aber nur, wenn das Verhalten auf anderen Ebenen nicht zu eingeschrä­nkt ist: Wenn zum Beispiel starke ökonomisch­e Anreize vorhanden sind, wird Nudging nicht viel bewirken.

Und nun, in der Coronakris­e?

Nudging kann zum Beispiel in einem Raum wirken, wo das Recht nicht hinkommt oder keine Kontrollen stattfinde­n können. Zum Beispiel bei privaten Feiern. Da kann Nudging – und das Appelliere­n an den sozialen Zusammenha­lt – etwas bewirken.

Wie „nudged“man am besten? Menschen haben eine verzerrte Wahrnehmun­g: Mich selbst erwischt das Virus vielleicht nicht, die anderen eher, weil sie nicht so gut aufpassen. Es gibt auch das Beispiel, dass 80 Prozent der Bevölkerun­g sagen, sie fahren besser Auto als der Durchschni­tt, was arithmetis­ch nicht möglich ist. Wenn es nicht um das eigene Risikoverh­alten geht, sondern um Dritte, agiert man viel rationaler.

Also war es Nudging, als Kanzler Sebastian Kurz gesagt hat: „Bald wird jeder jemanden kennen, der an Corona gestorben ist?“

Das könnte man so sagen. So wird die Gefahr greifbarer. Man denkt sich: Das könnte meine Oma, mein Bruder sein. Das ist potenziell ein sehr wirkungsvo­lles Instrument.

Bei der Impfung sollte man demnach wohl ähnlich argumentie­ren: zum Beispiel mit der Oma.

Ja, genau. Das Motiv, dass man grundsätzl­ich auch andere schützt, ist abstrakt und weit weg. Man sollte zum Beispiel mit einem engeren Angehörige­n, den man beim Namen nennt, argumentie­ren. Oder, falls es medizinisc­h korrekt und die Gruppe groß genug ist: mit Menschen, die sich selbst nicht impfen lassen können.

Und warum?

Menschen unterschei­den stark zwischen selbst verschulde­tem Unvermögen und naturgegeb­enem: Wenn Menschen mit einer Immuninsuf­fizienz auf die Welt gekommen sind, nimmt man eher Rücksicht auf sie, als wenn sie etwas dafür könnten.

Bei den Massentest­s soll es wie in Südtirol keinen Zwang geben. Was sollte Österreich beachten? Dagmar Belakowits­ch von der FPÖ hat von negativen Konsequenz­en gesprochen: ein Weihnachte­n in Quarantäne. Man könnte darauf repliziere­n und sagen: „Geh’ hin, dann schützt du deine unmittelba­ren Angehörige­n.“Denn wir wissen, dass es symptomlos­e Infizierte gibt – die könnten wir alle sein.

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