Das Pulverfass am Horn von Afrika
Äthiopien. Wegen des Tigray-Bürgerkriegs sind Zehntausende in den Sudan geflohen, Friedensmissionen in den Nachbarländern leiden. Schon jetzt sind die Auswirkungen weit über die Landesgrenzen hinweg zu spüren.
Addis Abeba/Kapstadt. Das Wort „Krieg“vermeidet Äthiopiens eloquenter Premierminister, Abiy Ahmed, weiterhin konsequent. Den Bürgerkrieg nennt der Friedensnobelpreisträger von 2019 eine „Operation zur Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung“. Doch er mag es drehen und wenden, wie er will: Die Gewalt in der TigrayRegion ist seit Anfang November dramatisch eskaliert.
Es gibt inzwischen genügend glaubwürdige Berichte, um von Hunderten Toten auszugehen, oft resultierend aus ethnisch motivierter Gewalt. Zehntausende Menschen sind geflohen vor den Kämpfen zwischen der äthiopischen Armee und den Milizen, die der aufständischen, einst landesweit einflussreichen Partei Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) nahestehen.
Viele Zivilisten suchen Schutz im Nachbarland Sudan, das sich nach der Revolution im vergangenen Jahr selbst gerade neu sortiert. In den vergangenen Tagen blockierten äthiopische Truppen die Zufahrtsstraßen in Richtung Sudan, was die Flüchtlingsströme abebben ließ und sich für die Blockierten wie das Zuschnappen einer Falle anfühlen muss.
Tigrayer massenhaft gefeuert
Immer deutlicher werden in diesen Tagen die erheblichen internationalen Auswirkungen des Konflikts. So teilte Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, dem äthiopischen Außenminister, Demeke Mekonnen, in einem Gespräch seine „große Sorge angesichts gezielter ethnischer Gewalt, zahlreicher Toten und Verletzungen von Menschenrechten“mit. Dieser Konflikt destabilisiere die Region bereits „ernsthaft“, konstatierte der EU-Politiker.
Das 110-Millionen-EinwohnerLand Äthiopien, das schon allein als Standort der Afrikanischen Union (AU) eine der wichtigsten Nationen Afrikas ist, reagierte brüskiert: „Wir weisen jede Einmischung in unsere internen Angelegenheiten zurück“, erwiderte das Büro von
Premierminister Abiy schroff in Richtung EU, mit der Äthiopien wichtige wirtschaftliche und entwicklungspolitische Verbindungen unterhält.
Der Konflikt hat sich längst ausgeweitet, nicht nur wegen der Flüchtlingskrise im Sudan. In Eritrea schlugen Raketen tigrayischer Aufständischer ein. Und auch in den instabilsten Ländern des Kontinents sind Auswirkungen zu spüren: So nimmt Äthiopiens Armee in Somalia eigentlich an der Bekämpfung der islamistischen Terrorgruppe al-Shabab teil. Zuletzt entwaffneten die Streitkräfte dort Hunderte eigene Soldaten – nämlich jene mit tigrayischer Abstammung. Zahlreiche ethnisch genehme Kämpfer hat die Regierung wiederum abgezogen und an die Front nach Tigray geschickt.
Auch von der Friedensmission im Südsudan wurden äthiopische Soldaten zurückbeordert – wegen zu großer Nähe zur TPLF, hieß es. Innerhalb Äthiopiens stellte die Polizei zahlreiche Beamte mit Wurzeln in Tigray vom Dienst frei.
Die Tigrayer stellen immerhin sechs Prozent der Bevölkerung, viele leben in der Hauptstadt, Addis Abeba. Dort wird so mancher Arbeitnehmer aus Tigray derzeit unter fadenscheinigen Gründen auch aus zivilen Jobs entlassen.
Hoffnung des Kontinents
Wohl mit keinem anderen afrikanischen Staat waren im vergangenen Jahrzehnt so große Hoffnungen verbunden wie mit Äthiopien. Bei der im Jahr 2017 von Deutschland angeschobenen G20-Initiative „Compacts with Africa“wird Äthiopien wie selbstverständlich als einer von „zwölf reformorientierten Staaten“mit der Aussicht auf bessere Bedingungen für private Investitionen genannt. Der als Reformer gefeierte Abiy wies imposante Wachstumsraten vor, baute im beachtlichen Tempo Armut ab und Fabriken auf, schien sogar die Zivilgesellschaft zu öffnen.
Davon ist in diesen Tagen wenig zu spüren. Das Internet und andere Kommunikationswege in Tigray sind seit Wochen abgestellt, internationale Journalisten dürfen sich fast ausschließlich nur noch innerhalb von Addis Abeba bewegen, oft wird erst gar kein Visum ausgestellt.
William Davison, als Repräsentant der renommierten Denkfabrik Crisis Group einer der wenigen dauerhaft in Äthiopien lebenden unabhängigen Analytiker, wurde vor einigen Tagen zunächst ohne formellen Grund mitgeteilt, er müsse das Land „sofort“verlassen. Später gab die Regierung an, seine Arbeitserlaubnis sei wegen angeblicher Verstöße gegen das Arbeitsrecht entzogen worden. Die Crisis Group meinte dazu nur, es gebe
„wenig Zweifel“, dass der Landesverweis mit der „zunehmenden Sensibilität der Behörden gegenüber Ansichten, die von der eigenen Linie abweichen“, zu tun habe.
Abiy hat sich selbst als Hoffnungsträger entzaubert. So rasant der dynamisch auftretende Premierminister das Friedensabkommen mit Eritrea vorantrieb, so schnell nahm er zentrale Bestandteile wieder zurück. Viele der frei gelassenen politischen Gefangenen wanderten wieder ins Gefängnis. Auch die erhoffte Liberalisierung und die Entbürokratisierung der Wirtschaft blieben weit hinter den Erwartungen zurück.
Zweifelhafter Föderalismus
Der Konflikt in Tigray offenbart aber vor allem, dass ausgeprägter, an ethnischen Linien orientierter Föderalismus nicht unbedingt der erhoffte Musterweg für dauerhaften Frieden in Vielvölkerstaaten wie Äthiopien ist. Das ist auch eine schlechte Nachricht für den Kongo und Nigeria, wo einige Forscher und Politiker dies als möglichen Ansatz für einen stabileren Frieden in Krisenregionen gesehen hatten.
Davon ist im Norden Äthiopiens vorerst keine Rede mehr. Abiy hatte schon lang vor dem Konflikt in Tigray versucht, seiner Zentralregierung mehr Macht über die Regionen zu sichern. Nun teilte er mit, dass er eine „finale Militäroffensive“auf die Provinzhauptstadt Mekelle angeordnet habe, nachdem zuvor ein Ultimatum an die TPLF-Führung abgelaufen war. „Das letzte friedliche Tor“habe sich geschlossen, schrieb Abiy auf Twitter. Er hätte genauso gut von Krieg sprechen können.