Gesund, von Kindesbeinen an
Strategie. Im Kampf gegen Diabetes liegt der Fokus auf Aufklärung von frühester Jugend an, auf dem Ausbau niederschwelliger Angebote und dem Aufbau einer Datenbank.
Die Zahlen sind besorgniserregend: Bis 2045 wird die Zahl der Menschen mit Diabetes in Österreich Schätzungen zufolge auf mehr als eine Million steigen. Die Österreichische Diabetes Gesellschaft spricht angesichts dieser Zahlen gar von einem Diabetes-Tsunami und macht sich für die Umsetzung der bereits 2017 verabschiedeten Diabetes-Strategie stark. Eine Forderung, der sich SP-Gesundheitssprecher Philip Kucher anschließt: „Es ist dafür höchste Zeit.“Zwei übergeordnete Ziele hat sich die Strategie gesetzt: Zum einen soll für alle in Österreich lebenden Menschen die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes zu erkranken, verringert werden. Zum anderen sollen alle in Österreich lebenden und an Diabetes erkrankten Menschen möglichst lange mit hoher Lebensqualität leben können.
Bewusstsein schaffen
„Ein zentraler Punkt ist die Prävention bereits ab dem Kindesalter“, sagt Kucher. Diese wird auch von den Gesundheitssprechern der anderen Parlamentsparteien vehement gefordert. „Man muss bei den Themen Ernährung und Bewegung bereits in den Kindergärten und Volksschulen ansetzen“, sagt ÖVP-Gesundheitssprecherin Gaby Schwarz. Das Interesse und die Freude an beiden könnten bei Kindern spielerisch gut geweckt werden, ist sie überzeugt. Aber nicht nur die Pädagogen, auch die Schulärzte sollten einbezogen werden. „Oft öffnen sich Kinder bei diesen mehr als beim Hausarzt, wo meist ein Elternteil dabei ist“, sagt Schwarz. Die gesunde Jause und gemeinsames Kochen seien gute Wege, um Kindern das Thema gesunde Ernährung näherzubringen.
Ihr Kollege von den Grünen, Ralph Schallmeiner, will Kindern darüber hinaus auch zeigen, woher Lebensmittel tatsächlich kommen. „Das geht beispielsweise bei Ausflügen auf Bauernhöfe“, sagt Schallmeiner, der dafür eintritt, dass die Mahlzeiten in Krippen, Kindergärten, Horten, Schulen und bei der Nachmittagsbetreuung bio, abwechslungsreich, gesund und regional sein müssen. „Es kann nicht sein, dass das Essen zweimal pro Woche aus 1000 Kilometer Entfernung hergebracht und vor Ort aufgewärmt wird“, so Schallmeiner. Neben der Freude an gesunder Ernährung sollte auch jene an der Bewegung geweckt werden, so der einhellige Tenor. „Ich bin ein großer Verfechter der täglichen Turnstunde“, sagt dazu Gerhard Kaniak, Gesundheitssprecher der FPÖ. Derzeit passiere jedoch das Gegenteil, sagt Gerald Loacker von den Neos. Ihm zufolge sollten bereits Kinder und Jugendliche lernen, Bewegung in ihre Tagesroutine einzubauen.
Eigenverantwortung wecken
Der Gesundheitssprecher der Neos tritt weiters dafür ein, die Menschen generell daran zu erinnern, dass sie eine gesunde Lebensweise selbst in der Hand hätten. „Wir sind alle selbst ein Stück weit für unsere Gesundheit verantwortlich. Dass es um die Eigenverantwortung in Österreich nicht gut bestellt ist, zeigt sich jetzt in der Coronakrise“, so Loacker.
Die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) habe mit ihrem Vorsorgeprogramm „Selbständig gesund“, bei dem nach dem Erreichen von Gesundheitszielen, die im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung definiert wurden, der Selbstbehalt von 20 auf zehn Prozent reduziert wird, einen Schritt in die richtige Richtung gemacht. „Mit solchen Anreizen sollte man öfter arbeiten, um auch Erwachsene für ein gesundes Leben zu interessieren“, sagt der Gesundheitssprecher der Neos. Für Anreize, die nicht unbedingt finanzieller Natur sein müssten, spricht sich auch Kaniak aus. „Strafen und Zwang erzeugen bloß Widerstand“, so der FPÖ-Gesundheitssprecher. Die Politik werde nicht darum herumkommen, einzugreifen, glaubt hingegen Kucher. Das Minimum sollte eine vernünftige Kennzeichnung der Lebensmittel sein. „Bis heuer sollte laut Gesundheitsministerium der Zuckerkonsum pro Kopf in Österreich auf rund 26 Kilo sinken. Nach Angaben der Statistik Austria ist er jedoch auf 33,4 Kilo gestiegen“, sagt Kucher.
Niemanden alleinlassen
Die zweite Schraube, an der nach Ansicht aller Gesundheitssprecher gedreht werden sollte, ist der Ausbau der niederschwelligen Angebote zur Betreuung bereits Erkrankter. „Der zentrale Punkt ist der Schulterschluss, damit wir eine flächendeckende standardisierte Versorgung auf Schiene bringen“, sagt SPÖMann Kucher. Etwa in Form der Primärversorgungszentren, in denen sowohl Therapie als auch Beratung und Unterstützung für das Leben mit Diabetes sowie für die Änderung des Lebensstils angeboten werden sollen.
„Kollegiales Arbeiten erweitert den Blick, das ist der große Vorteil gegenüber dem Arzt als Einzelkämpfer. Denn angesichts der Komplexität des Themas kann einer heute nicht mehr alles wissen. Und es hilft den Betroffenen, rasch zu einer strukturierten Therapie und Betreuung zu kommen“, sagt Loacker. In diese Primärversorgungszentren sollten auch Wundcaremanager, Ernährungsberater und Bewegungstrainer eingebunden werden. Das gelte auch für die Community Nurses, so Schwarz, Kucher, Kaniak und Schallmeiner. Diese – im Regierungsprogramm wird im Kapitel Pflege konkret das Projekt „Community Nurses in 500 Gemeinden“genannt – sollen demnach nicht nur zentrale Ansprechpersonen für die zu Pflegenden sein, Angehörige unterstützen und mobile Pflegeund Betreuungsdienste, medizinische und soziale Leistungen sowie Therapien koordinieren, sondern im Zusammenhang mit Diabetes auch das Bewusstsein für die Erkrankung und die erforderliche Lebensstiländerung schaffen.
Mit Anleitung und Struktur
Einigkeit herrscht parteiübergreifend ebenfalls darüber, dass das Disease Management Programm (DMP) „Therapie Aktiv“ausgebaut werden müsse. „Wir brauchen dafür einerseits mehr Ärzte, andererseits muss das Interesse der Patienten daran geweckt werden“, sagt Kaniak. Ein klassischer Diabetiker brauche Unterstützung, Anleitung und eine klare Struktur. „Für ihn ist nichts schlimmer, als sich selbst überlassen zu sein. Dazu kommt, dass die Pharmazie nichts gegen chronisches Fehlverhalten tun kann“, weiß Kaniak. Das Programm müsse jedoch nicht nur gestärkt, sondern auch regelmäßig evaluiert werden, so ÖVP-Gesundheitssprecherin Schwarz. „Damit können sowohl medizinische als auch ökonomische Erkenntnisse gewonnen werden, die uns dabei unterstützen, neue Schlüsse zu ziehen und neue Wege zu gehen“, sagt Schwarz, die die Datenlage im Bereich Diabetes als „besorgniserregend“bezeichnet.
Diabetes-Register notwendig
Auf die schlechte Datenlage sowie auf qualitative Probleme bei der Versorgung von an Diabetes Typ 2 Erkrankten und Defizite in der Prävention hat übrigens 2019 bereits der Rechnungshof in seinem Bericht „Diabetes–Prävention und –Versorgung“hingewiesen. Demnach sollten valide und vollständige Datengrundlagen zu Diabetes geschaffen und regionale sowie geschlechtsspezifische Besonderheiten analysiert und bei Prävention und Versorgung berücksichtigt werden, so der Rechnungshof. Loacker tritt in diesem Zusammenhang dafür ein, dass Ärzte nach deutschem Vorbild Diagnosen mit standardisierten Codes erfassen sollten. „So kann man Daten ganz anders auswerten und der Wissenschaft zur Verfügung stellen – und zwar entsprechend dem Datenschutz“, ist Loacker überzeugt.
Und Kucher ergänzt: „Wir sehen derzeit jeden Tag, wie wichtig eine vernünftige Datengrundlage wäre, um Handlungsempfehlungen ableiten und Versorgungslücken identifizieren zu können.“Er könne die Kritik an der schlechten Datenlage zwar teilen und sehe ebenfalls die Notwendigkeit, rasch ein Register aufzustellen, sagt dazu Schallmeiner. Dennoch dürfe man dabei – auch in Hinblick auf den Datenschutz – nicht „aus der Hüfte schießen“. Man müsse daher sicherstellen, dass die Daten sauber seien, und garantieren können, dass Versicherungen, Pharmafirmen oder andere Institutionen beziehungsweise Unternehmen darauf keinen Zugriff hätten und nichts aus ihnen herauslesen könnten. „Was nicht passieren darf, ist, dass Versicherungen jemanden nicht oder nur gegen eine hohe Prämie versichern, weil er an Diabetes leidet“, warnt der Grüne.
Telemedizin ausbauen
Die Digitalisierung sollte jedoch nicht nur auf Datenebene genutzt werden. „Wir sind jetzt ins digitale Zeitalter katapultiert worden“, sagt Schwarz. Die Pandemie habe in den vergangenen Monaten den Nutzen von Telemedizin deutlich gezeigt. „Das heißt, wir sollten diese nach Corona weiter ausbauen“, fordert die ÖVP-Gesundheitssprecherin. Sie plädiert im Übrigen dafür, die sich bietenden digitalen Möglichkeiten auch zu nutzen, um Kindern und Jugendlichen das Thema Diabetes näherzubringen. „Jugendliche sind gewohnt, dass sie sich online Informationen besorgen. Und Kinder kann man auch virtuell in einer kindgerechten Form informieren“, sagt Schwarz.