So weise macht uns Chinas Führer
Politik. Das Buch „Chinesische Weisheiten in Xi Jinpings Reden“verbirgt hinter wohlfeilen Sinnsprüchen aus alten Zeiten ein zeitlos autoritäres Weltbild. Vom gescheiterten Versuch einer Annäherung an eine uns immer noch fremde Kultur.
Es gibt Weisheiten, mit denen kommt man einfach leichter durchs Leben. Wie diese: „Man muss sich Ziele setzen. Mit Zielen erzielt man Erfolge.“Wenn man dann vor Entscheidungen steht, „muss vorher gründlich nachgedacht werden, um Unklarheiten hinterher zu vermeiden“. Wie wahr! Tauchen Hürden auf, empfiehlt es sich, diese zu überwinden: „Wo Berge sind, bahnen wir uns einen Weg; wo Wasser ist, schlagen wir eine Brücke.“Bei alldem sollten wir immer „die Gesamtsituation im Herzen haben und die großen Aufgaben ins Auge fassen“. Als Xi Jinping diese goldenen Worte sprach, „stimmten sie die Amtsträger nachdenklich“, wie es im begleitenden Kommentar heißt.
Uns stimmt anderes nachdenklich: Warum hat Königshausen & Neumann, ein renommierter deutscher Fachverlag für Geisteswissenschaften, mit „Chinesische Weisheiten in Xi Jinpings Reden“ein Propagandabuch des kommunistischen Parteiorgans „Volkszeitung“übersetzt und uns eins zu eins zur Lektüre aufgetischt? Aber wir wollen nicht im trüben Teich der Motive fischen, sondern eine Chance nutzen. Denn der chinesische Präsident und ZK-Generalsekretär ist ja ein kluger Mann. Bei seinem Amtsantritt erklärte er, dass „leeres Gerede das Land in die Irre führt“und „oberflächliche Gedanken“zu bekämpfen seien. Also teilt er wohl nicht unser Empfinden, er verbreite in seinen Reden großteils Plattitüden.
Banaler Rat für unfähige Kaiser
Einen ähnlichen Eindruck hatten freilich schon unsere Eltern, als sie das „kleine rote Buch“lasen, die „Mao-Bibel“des großen Vorsitzenden (Ephraim Kishon hat darüber eine seiner bissigsten Satiren geschrieben). Aber nun erfahren wir Ahnungslosen, dass Xis Reden gespickt sind mit Zitaten aus einer dreitausendjährigen Tradition, von feinfühligen Dichtern, taoistischen Denkern und konfuzianischen Gelehrten. Also schlagen wir eine Brücke, um über das Wasser westlicher Ignoranz an die Ufer fernöstlicher Kultur zu gelangen.
Und haben bald ein Aha-Erlebnis: Wir erfahren, dass die meisten dieser Sprüche die Weisen früherer Zeiten den Kaisern anvertrauten, die sie um Rat gefragt hatten. Viele dieser Herrscher waren offenbar ziemlich unfähig und machten dumme Dinge. Hätten die Gelehrten ihnen das offen ins Gesicht gesagt, wären sie wohl rasch einen
Kopf kürzer gewesen. Also, lesen wir zwischen den Zeilen, verpackten sie ihre Kritik in so weichgespülte Binsenweisheiten, dass der Souverän ihnen nur recht geben konnte. Das erklärt freilich nicht, warum ein moderner Mensch wie Xi das alles wieder ausgräbt. Wir sehen aber den Kontext: Es sind Botschaften an Parteifunktionäre oder Staatsgäste. Es geht um Chiffren, diplomatische Codes. Das weckt Neugier, ja Verdacht: Vielleicht sind manche dieser Sprüche gar nicht so harmlos, wie sie im Ganzen wirken?
Ob nun ein Kaiser oder ein Diktator über das Riesenreich herrscht: Beide scheinen vor nichts mehr Angst zu haben als vor „Unruhen“, die „aus einem etwas scheinbar Glaubwürdigen entstehen“und eine „ordnungswidrige Gier“wecken. Wehret den Anfängen! „Was noch zart ist, lässt sich leicht zerbrechen“, ob in Hongkong oder bei den Uiguren. Xi fordert „strategische Entschlossenheit“, und der Kommentar erklärt, was das heißt: den „Kurs nicht ändern“, also Widerstände aussitzen, dann wird „die Kritik mit der Zeit immer leiser“. Denn, wie man schon vor 500 Jahren wusste: „Beim Regieren kommt es darauf an, das Volk zu beruhigen.“Wie stellt man das an? Indem man die materiellen Bedürfnisse befriedigt, und nur sie: „Das Volk will keine Armut, so beschere ich ihm Reichtum. Das Volk will keine Existenzbedrohung, so verschaffe ich ihm Sicherheit.“Wir sollten darüber nicht die Nase rümpfen: Auch in unserer Wirtschaftswunderzeit waren die Bürger ziemlich unpolitisch, freilich auf demokratischer Basis.
Künstler vor den Karren spannen
In China darf es auch den Intellektuellen nur darum gehen, dass sie es warm und trocken haben: „Hätte ich ein großes Landhaus mit tausend Räumen“, zitiert Xi ein Gedicht aus dem achten Jahrhundert, „so gewährte ich allen armen Gelehrten ein Dach und sie lächelten schön zufrieden“. Müssen sie auch, denn der Staat spannt sie vor seinen Karren. Als „Aufgaben der Literaten und Künstler“nennt Xi: das „tugendhafte Verhalten zu besingen“, um „ein geistiges Zuhause für alle Chinesen aufzubauen“. Wer da nicht mitmacht, würde „Gewissensbisse bekommen“. Spätestens wohl im Umerziehungslager.
Aber halt: Wir sind vom Kurs abgedriftet. Statt demütig zu lernen, verfallen wir in das übliche westliche Peking-Bashing. Also ducken wir uns schamerfüllt unter der klassischen Schelte aus einem Gastbeitrag von Xi für eine belgische Zeitung: „Der Weise sucht nach Gemeinsamkeiten, der Gemeine nach Unterschieden.“Und wir zittern ein wenig vor der Ergänzung der Kollegen von der Volkszeitung: „Hat man nur Unterschiede im Blick, die man absichtlich übertreibt, kann es zu Konflikten führen.“
Also schlagen wir zum Schluss wieder Brücken. „Manchmal ist das Richtige nicht brauchbar“, zitiert Xi einen vorchristlichen Philosophen, „das Falsche muss unbedingt eingesetzt werden“. Denn „es gibt Fälle, in denen das Richtige Niederlagen herbeiführt und das Falsche Erfolge erbringt“. Diesen Rat erteilte Xi auf einer Konferenz über „Öffentlichkeits- und ideologische Arbeit“. Nein, das mit den Fake News hat nicht erst Trump erfunden, auch nicht Machiavelli.
Hier können sich Ost und West die Hände reichen. Auch Corona hat zu einer Annäherung geführt. Unsere Regierenden hätten keine Hemmungen mehr, sich diese Deutung eines Zitats von Meister Xunzi ins Stammbuch schreiben zu lassen: „Die breiten Volksmassen werden vereinigt und die tugendhaften Menschen stimmen von ganzem Herzen mit dem Herrscher überein, wenn die Regelungen rechtzeitig verordnet werden.“Im Lockdown herrscht eben auf jedem Platz der himmlische Frieden.