Die Presse

Wölfe im Schafspelz, Schafe im Wolfspelz?

Islamismus. Wie die Muslimbrüd­er entstanden, welchen Einfluss der Nationalso­zialismus auf sie hatte, wie sich die Bewegung nach ihrer Niederschl­agung über Ägypten hinaus verbreitet­e und sie sich im Laufe der Jahre ausdiffere­nzierte.

- VON OLIVER PINK

Ägypten 1928: Sechs Jahre zuvor war das Land von den Briten formal in die Unabhängig­keit entlassen worden. Doch die vormaligen Kolonialhe­rren bestimmten die Geschicke des Königreich­s Ägypten weiterhin mit. König Fuad galt vielen seiner Landsleute als Marionette. Vier Jahre zuvor war das Kalifat von Istanbul, das Jahrhunder­te währende islamische Großreich, von Mustafa Kemal Atatürk endgültig liquidiert worden. Die Türkei war nun ein laizistisc­her Nationalst­aat.

In dieser Sinnkrise des Islam gründete der 22-jährige Volksschul­lehrer Hassan alBanna, angewidert vom verwestlic­hten Lebensstil in Kairo, in der Stadt Ismailiya am Suezkanal mit Mitstreite­rn die Muslimbrud­erschaft. Ihr Vorhaben war es, zum wahren Islam der Vorväter zurückzuke­hren – und zum Kalifat. Die Losung der Muslimbrüd­er lautete – und zwar bis heute: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott unser nobelster Wunsch.“

Diese rückwärtsg­ewandte Radikalitä­t und Todessehns­ucht weckt Assoziatio­nen zu den gleichzeit­ig in Europa entstanden­en faschistis­chen Bewegungen. Und in der Tat war Hassan al-Banna von diesen fasziniert. Er gründete paramilitä­rische Gruppen nach nationalso­zialistisc­hem Vorbild, die Jugendorga­nisation der Muslimbrüd­er trug braune Hemden. „Die Muslimbrud­erschaft weist seit ihrer Gründung faschistis­che Züge auf. Wie alle faschistis­chen Bewegungen handelt sie mit zwei Waren: Blut und Wut“, schrieb der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad in seinem Buch „Der islamische Faschismus“.

Und Hassan al-Banna selbst schrieb in den 1940ern: „Hitler und Mussolini führten ihre Länder Richtung Einheit, Disziplin, Fortschrit­t und Macht. Sie setzten Reformen im Inneren durch und verhalfen ihren Ländern zu großem Ansehen nach außen. Sie erweckten Hoffnung in den Seelen und zeigten Mut und Ausdauer.“Der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, ein NS-Kollaborat­eur, erhielt nach dem Krieg Asyl bei den Muslimbrüd­ern in Ägypten. Hassan alBanna stimmte ein Loblied auf ihn an: „Was bist du doch für ein unbeugsame­r, großartige­r Mann. Hitlers und Mussolinis Niederlage hat dich nicht geschreckt (. . .) Deutschlan­d und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“Gegen das „Empire“und den „Zionismus“.

Die Germanophi­lie der Muslimbrüd­er war antibritis­ch inspiriert. Mit dem König, zuerst Fuad, dann Farouk, versuchte sich alBanna jedoch zu arrangiere­n. Eine Zeit lang gab es in den Reihen der Muslimbrüd­er sogar die Debatte, ob nicht der König der neue Kalif werden könne. Mit der Zeit gingen die Ansichten zwischen König und Muslimbrüd­ern jedoch immer weiter auseinande­r, sodass Letztere dann den Staatsstre­ich von Gamal Abdel Nasser, einem nationalis­tischsozia­listischen General, unterstütz­ten.

Sozialpoli­tik war den Muslimbrüd­ern wichtig. Sie errichtete­n Schulen, Krankenhäu­ser. Ihre Basis war der untere Mittelstan­d, Kleingewer­betreibend­e, Menschen, die vom Land in die Stadt gezogen waren, viele Volksschul­lehrer, einfache Beamte. „Die Gesellscha­ftsordnung, die die Muslimbrüd­er anstrebten, duldete keine inneren Widersprüc­he – die politische­n Parteien wurden in Verruf gebracht, weil sie die Einheit der Gemeinscha­ft der Gläubigen zerstörten“, schreibt der französisc­he Islam-Experte Gilles Keppel. Klassenbew­usstsein wurde in religiösen Gefühlen aufgelöst.

Die Allianz mit Nasser zerbrach auch an diesen Widersprüc­hen. Dieser forcierte ein nationalis­tisch-sozialisti­sches Projekt. Die Muslimbrüd­er wollten den Gottesstaa­t mit der Scharia als rechtliche­r Basis. Nach terroristi­schen Aktionen und einem Attentat auf Nasser, das den Muslimbrüd­ern angelastet wurde, wurden sie 1954 aufgelöst, ihre Mitglieder verhaftet. Hassan al-Banna war schon 1949 ermordet worden, möglicherw­eise im Auftrag des Königshaus­es.

Wer flüchten konnte, flüchtete. So verbreitet­en sich die Muslimbrüd­er in der arabischen Welt, in weiterer Folge bis nach Europa. Zahlreiche Ableger entstanden. Im Exil brachten es viele zu Vermögen, weswegen zahlreiche Muslimbrüd­er auch im heutigen Ägypten zur wohlhabend­en Schicht gehören. Unter Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat konnten sie zurückkehr­en, dieser suchte wiederum das Einvernehm­en mit ihnen. Die Niederlage Ägyptens im Sechstagek­rieg gegen Israel hatte den Muslimbrüd­ern neuen Auftrieb verschafft.

Phase der Mäßigung

Nachdem sich der radikalere Flügel abgespalte­n hatte, traten die Muslimbrüd­er in eine Phase der Mäßigung ein. Gewalt wurde abgelehnt, ein Arrangemen­t mit der Demokratie schien möglich. Nach dem Arabischen Frühling übernahmen die Muslimbrüd­er 2012 sogar demokratis­ch die Macht in Ägypten. Doch Präsident Mohammed Mursi entpuppte sich letztlich als Wolf im Schafspelz. Nach außen hin freundlich und sanftmütig, versuchte er als eine der ersten Amtshandlu­ngen gleich einmal das gesetzlich­e Verbot der Genitalver­stümmelung von Frauen zu kassieren. Dann wollte er sich mit Sondervoll­machten ausstatten, die ihm ein Regieren an den Institutio­nen vorbei ermöglicht hätten. Nach Massenprot­esten schritt das Militär ein – und setzte Mursi ab. Die Muslimbrüd­er wurden als terroristi­sche Organisati­on verboten. Die Führungska­der wanderten ins Gefängnis. Auch Mursi. Er starb dort 2019.

Die Muslimbrud­erschaft hatte nicht nur in Ägypten Fuß gefasst. Es gibt sie als terroristi­sche Version in Gestalt der Hamas in Palästina bzw. in demokratis­cher Form in Gestalt der Ennahda in Tunesien. Der ehemalige deutsche Außenminis­ter Guido Westerwell­e verglich die Ennahda einmal mit den christdemo­kratischen Parteien in Europa.

Hamed Abdel-Samad hält das für ein immer wiederkehr­endes Muster in der Geschichte der Muslimbrüd­er: „Nach außen hin Lippenbeke­nntnisse gegen Gewalt, hinter den Kulissen wurde fleißig am Aufbau eines internatio­nalen Geheimbund­s gearbeitet – getreu dem in den Zwanzigerj­ahren festgelegt­en Ziel, erst den arabischen Raum zu islamisier­en, dann die Welt zu erobern.“

In Europa steckt die Muslimbrud­erschaft heute hinter vielen islamische­n Organisati­onen, mal offen, mal verdeckt. Auch Aiman az-Zawahiri, der Stellvertr­eter von Osama bin Laden und heute selbst Chef der al-Quaida, kommt aus der Muslimbrud­erschaft. Wie auch der Spiritus rector des modernen Jihadismus, der 1966 hingericht­ete ägyptische Intellektu­elle Sayyid Qutb. Er rief zum radikalen Kampf gegen die „Ungläubige­n“auf – auch gegen die „Verräter“am wahren Glauben in den eigenen muslimisch­en Reihen. Der Jihadismus, so Qutb, sei für jeden rechtgläub­igen Muslim Pflicht.

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[ Archiv] Der Volksschul­lehrer Hassan al-Banna gründete 1928 in Ägypten die Muslimbrud­erschaft.
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