Wölfe im Schafspelz, Schafe im Wolfspelz?
Islamismus. Wie die Muslimbrüder entstanden, welchen Einfluss der Nationalsozialismus auf sie hatte, wie sich die Bewegung nach ihrer Niederschlagung über Ägypten hinaus verbreitete und sie sich im Laufe der Jahre ausdifferenzierte.
Ägypten 1928: Sechs Jahre zuvor war das Land von den Briten formal in die Unabhängigkeit entlassen worden. Doch die vormaligen Kolonialherren bestimmten die Geschicke des Königreichs Ägypten weiterhin mit. König Fuad galt vielen seiner Landsleute als Marionette. Vier Jahre zuvor war das Kalifat von Istanbul, das Jahrhunderte währende islamische Großreich, von Mustafa Kemal Atatürk endgültig liquidiert worden. Die Türkei war nun ein laizistischer Nationalstaat.
In dieser Sinnkrise des Islam gründete der 22-jährige Volksschullehrer Hassan alBanna, angewidert vom verwestlichten Lebensstil in Kairo, in der Stadt Ismailiya am Suezkanal mit Mitstreitern die Muslimbruderschaft. Ihr Vorhaben war es, zum wahren Islam der Vorväter zurückzukehren – und zum Kalifat. Die Losung der Muslimbrüder lautete – und zwar bis heute: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott unser nobelster Wunsch.“
Diese rückwärtsgewandte Radikalität und Todessehnsucht weckt Assoziationen zu den gleichzeitig in Europa entstandenen faschistischen Bewegungen. Und in der Tat war Hassan al-Banna von diesen fasziniert. Er gründete paramilitärische Gruppen nach nationalsozialistischem Vorbild, die Jugendorganisation der Muslimbrüder trug braune Hemden. „Die Muslimbruderschaft weist seit ihrer Gründung faschistische Züge auf. Wie alle faschistischen Bewegungen handelt sie mit zwei Waren: Blut und Wut“, schrieb der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad in seinem Buch „Der islamische Faschismus“.
Und Hassan al-Banna selbst schrieb in den 1940ern: „Hitler und Mussolini führten ihre Länder Richtung Einheit, Disziplin, Fortschritt und Macht. Sie setzten Reformen im Inneren durch und verhalfen ihren Ländern zu großem Ansehen nach außen. Sie erweckten Hoffnung in den Seelen und zeigten Mut und Ausdauer.“Der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, ein NS-Kollaborateur, erhielt nach dem Krieg Asyl bei den Muslimbrüdern in Ägypten. Hassan alBanna stimmte ein Loblied auf ihn an: „Was bist du doch für ein unbeugsamer, großartiger Mann. Hitlers und Mussolinis Niederlage hat dich nicht geschreckt (. . .) Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“Gegen das „Empire“und den „Zionismus“.
Die Germanophilie der Muslimbrüder war antibritisch inspiriert. Mit dem König, zuerst Fuad, dann Farouk, versuchte sich alBanna jedoch zu arrangieren. Eine Zeit lang gab es in den Reihen der Muslimbrüder sogar die Debatte, ob nicht der König der neue Kalif werden könne. Mit der Zeit gingen die Ansichten zwischen König und Muslimbrüdern jedoch immer weiter auseinander, sodass Letztere dann den Staatsstreich von Gamal Abdel Nasser, einem nationalistischsozialistischen General, unterstützten.
Sozialpolitik war den Muslimbrüdern wichtig. Sie errichteten Schulen, Krankenhäuser. Ihre Basis war der untere Mittelstand, Kleingewerbetreibende, Menschen, die vom Land in die Stadt gezogen waren, viele Volksschullehrer, einfache Beamte. „Die Gesellschaftsordnung, die die Muslimbrüder anstrebten, duldete keine inneren Widersprüche – die politischen Parteien wurden in Verruf gebracht, weil sie die Einheit der Gemeinschaft der Gläubigen zerstörten“, schreibt der französische Islam-Experte Gilles Keppel. Klassenbewusstsein wurde in religiösen Gefühlen aufgelöst.
Die Allianz mit Nasser zerbrach auch an diesen Widersprüchen. Dieser forcierte ein nationalistisch-sozialistisches Projekt. Die Muslimbrüder wollten den Gottesstaat mit der Scharia als rechtlicher Basis. Nach terroristischen Aktionen und einem Attentat auf Nasser, das den Muslimbrüdern angelastet wurde, wurden sie 1954 aufgelöst, ihre Mitglieder verhaftet. Hassan al-Banna war schon 1949 ermordet worden, möglicherweise im Auftrag des Königshauses.
Wer flüchten konnte, flüchtete. So verbreiteten sich die Muslimbrüder in der arabischen Welt, in weiterer Folge bis nach Europa. Zahlreiche Ableger entstanden. Im Exil brachten es viele zu Vermögen, weswegen zahlreiche Muslimbrüder auch im heutigen Ägypten zur wohlhabenden Schicht gehören. Unter Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat konnten sie zurückkehren, dieser suchte wiederum das Einvernehmen mit ihnen. Die Niederlage Ägyptens im Sechstagekrieg gegen Israel hatte den Muslimbrüdern neuen Auftrieb verschafft.
Phase der Mäßigung
Nachdem sich der radikalere Flügel abgespalten hatte, traten die Muslimbrüder in eine Phase der Mäßigung ein. Gewalt wurde abgelehnt, ein Arrangement mit der Demokratie schien möglich. Nach dem Arabischen Frühling übernahmen die Muslimbrüder 2012 sogar demokratisch die Macht in Ägypten. Doch Präsident Mohammed Mursi entpuppte sich letztlich als Wolf im Schafspelz. Nach außen hin freundlich und sanftmütig, versuchte er als eine der ersten Amtshandlungen gleich einmal das gesetzliche Verbot der Genitalverstümmelung von Frauen zu kassieren. Dann wollte er sich mit Sondervollmachten ausstatten, die ihm ein Regieren an den Institutionen vorbei ermöglicht hätten. Nach Massenprotesten schritt das Militär ein – und setzte Mursi ab. Die Muslimbrüder wurden als terroristische Organisation verboten. Die Führungskader wanderten ins Gefängnis. Auch Mursi. Er starb dort 2019.
Die Muslimbruderschaft hatte nicht nur in Ägypten Fuß gefasst. Es gibt sie als terroristische Version in Gestalt der Hamas in Palästina bzw. in demokratischer Form in Gestalt der Ennahda in Tunesien. Der ehemalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle verglich die Ennahda einmal mit den christdemokratischen Parteien in Europa.
Hamed Abdel-Samad hält das für ein immer wiederkehrendes Muster in der Geschichte der Muslimbrüder: „Nach außen hin Lippenbekenntnisse gegen Gewalt, hinter den Kulissen wurde fleißig am Aufbau eines internationalen Geheimbunds gearbeitet – getreu dem in den Zwanzigerjahren festgelegten Ziel, erst den arabischen Raum zu islamisieren, dann die Welt zu erobern.“
In Europa steckt die Muslimbruderschaft heute hinter vielen islamischen Organisationen, mal offen, mal verdeckt. Auch Aiman az-Zawahiri, der Stellvertreter von Osama bin Laden und heute selbst Chef der al-Quaida, kommt aus der Muslimbruderschaft. Wie auch der Spiritus rector des modernen Jihadismus, der 1966 hingerichtete ägyptische Intellektuelle Sayyid Qutb. Er rief zum radikalen Kampf gegen die „Ungläubigen“auf – auch gegen die „Verräter“am wahren Glauben in den eigenen muslimischen Reihen. Der Jihadismus, so Qutb, sei für jeden rechtgläubigen Muslim Pflicht.