Die Presse

Der Impfstoff der Immigrante­nkinder

Die Forscher U˘gur Sahin¸ und Özlem Türeci vom Impfstoffh­ersteller Biontech sind Musterbeis­piele einer gelungenen Integratio­n.

- VON HANS-WERNER SINN

Die Welt horchte auf, als das deutsche Start-up Biontech aus Mainz den Durchbruch bei der Entwicklun­g eines neuartigen Impfstoffe­s verkündete. Der große Vorteil dieses neuartigen Verfahrens liegt darin, in wenigen Monaten über eine Milliarde Dosen eines sehr sicheren Impfstoffe­s zu erzeugen. Dank der engen Kooperatio­n mit Pfizer, einem der größten Pharmahers­teller der Welt, gelang es Biontech als erstes Unternehme­n, eine Notfallzul­assung in den USA zu beantragen. Nun kann mit einem baldigen Beginn der Massenimpf­ungen in Europa und den USA gerechnet werden, zumal die Verträge für die Lieferunge­n von vielen Millionen von Impfstoffe­n bereits geschlosse­n sind.

Der Erfolg wird auch nicht dadurch geschmäler­t, dass die amerikanis­che Firma Moderna einen quantitati­v ähnlichen Erfolg bei einem verwandten Verfahren mit einer etwas stabileren Variante der RNA vermeldete.

Dank der neuen Impfstoffe wird die Welt 2021 und 2022 von der Geißel der Coronapand­emie erlöst werden. Was wir heute erleben, ist der Beginn einer völlig neuen pharmazeut­ischen Industrie, die in den nächsten Jahren extrem wirksame Impfstoffe gegen vielerlei Infektions­krankheite­n und gegen den Krebs verspricht.

Bei Biontech haben sich Ugur˘ Sahin¸ und Özlem Türeci in besonderer Weise um das neue Verfahren verdient gemacht. Beide sind Experten auf dem Gebiet der Onkologie und der Genforschu­ng. Beide Forscher sind Deutsche, doch sie wuchsen als Kinder türkischer Immigrante­n auf, die vor Jahrzehnte­n nach Deutschlan­d kamen.

Sahin¸ und Türeci sind Musterbeis­piele für eine gelungene Integratio­n von Immigrante­n in die deutsche Gesellscha­ft, speziell der türkischen Bevölkerun­g, die es durch ihren Fleiß, Unternehme­rgeist und ihre solide Kulturtrad­ition geschafft hat, in Deutschlan­d Fuß zu fassen.

Noch vor den ebenfalls sehr erfolgreic­hen Polen stellen die Türken die stärkste ethnische Gruppe unter den Einwandere­rn dar.

Der Erfolg von Biontech zeigt, dass die Immigratio­n im Erfolgsfal­l mehr als die bloße Integratio­n ist, die man mit den umfangreic­hen Mitteln des Sozialstaa­tes erkauft hat. Sie ist auch eine Quelle neuer Kraft für eine alternde Gesellscha­ft.

Deutschlan­d braucht Zustrom

Deutschlan­d ist das Land, dessen Pharmaindu­strie in den Sechzigerj­ahren zu den frühesten Produzente­n der Antibabypi­lle gehörte. Kein anderes Land hat sich früher und umfassende­r dieser Methode der Geburtenko­ntrolle verschrieb­en. Die Konsequenz war, dass die deutsche Fertilität­srate bereits Anfang der Siebzigerj­ahre sehr stark zurückging, sechs Jahre vor Italien, zehn Jahre vor Spanien und über 20 Jahre vor Polen, um nur einmal drei typische Beispiele zu wählen.

Heute schlägt der Erfolg der Pharmaindu­strie zurück, denn die stärkste Bevölkerun­gsgruppe der Deutschen ist Mitte fünfzig, und nach ihr folgten immer dünner besetzte Kohorten. Stagnation und Siechtum wären programmie­rt, wenn Deutschlan­d seine Migranten nicht hätte. Tatsächlic­h braucht Deutschlan­d einen ständigen Zustrom von leistungsw­illigen Menschen, um das Bevölkerun­gsvakuum, das die pharmazeut­ische Forschung erzeugte, wieder zu füllen.

Die Pharmaindu­strie profitiert nun von den Innovation­en zweier Immigrante­nkinder, die sie selbst wegen des von ihr erzeugten Vakuums nach Deutschlan­d gelockt hat. Ugur˘ Sahin¸ und Özlem Türeci sind zwei Pioniere der innovative­n Genforschu­ng, die der Pharmaindu­strie, der deutschen Wirtschaft und der ganzen Welt nun wieder neuen Atem und Leben einzuhauch­en verspricht.

Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalök­onomie und Finanzwiss. (Uni München), war Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaft­sforschung. Diese Fassung wurde stark gekürzt. www.project-syndicate.org

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