Der Impfstoff der Immigrantenkinder
Die Forscher U˘gur Sahin¸ und Özlem Türeci vom Impfstoffhersteller Biontech sind Musterbeispiele einer gelungenen Integration.
Die Welt horchte auf, als das deutsche Start-up Biontech aus Mainz den Durchbruch bei der Entwicklung eines neuartigen Impfstoffes verkündete. Der große Vorteil dieses neuartigen Verfahrens liegt darin, in wenigen Monaten über eine Milliarde Dosen eines sehr sicheren Impfstoffes zu erzeugen. Dank der engen Kooperation mit Pfizer, einem der größten Pharmahersteller der Welt, gelang es Biontech als erstes Unternehmen, eine Notfallzulassung in den USA zu beantragen. Nun kann mit einem baldigen Beginn der Massenimpfungen in Europa und den USA gerechnet werden, zumal die Verträge für die Lieferungen von vielen Millionen von Impfstoffen bereits geschlossen sind.
Der Erfolg wird auch nicht dadurch geschmälert, dass die amerikanische Firma Moderna einen quantitativ ähnlichen Erfolg bei einem verwandten Verfahren mit einer etwas stabileren Variante der RNA vermeldete.
Dank der neuen Impfstoffe wird die Welt 2021 und 2022 von der Geißel der Coronapandemie erlöst werden. Was wir heute erleben, ist der Beginn einer völlig neuen pharmazeutischen Industrie, die in den nächsten Jahren extrem wirksame Impfstoffe gegen vielerlei Infektionskrankheiten und gegen den Krebs verspricht.
Bei Biontech haben sich Ugur˘ Sahin¸ und Özlem Türeci in besonderer Weise um das neue Verfahren verdient gemacht. Beide sind Experten auf dem Gebiet der Onkologie und der Genforschung. Beide Forscher sind Deutsche, doch sie wuchsen als Kinder türkischer Immigranten auf, die vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen.
Sahin¸ und Türeci sind Musterbeispiele für eine gelungene Integration von Immigranten in die deutsche Gesellschaft, speziell der türkischen Bevölkerung, die es durch ihren Fleiß, Unternehmergeist und ihre solide Kulturtradition geschafft hat, in Deutschland Fuß zu fassen.
Noch vor den ebenfalls sehr erfolgreichen Polen stellen die Türken die stärkste ethnische Gruppe unter den Einwanderern dar.
Der Erfolg von Biontech zeigt, dass die Immigration im Erfolgsfall mehr als die bloße Integration ist, die man mit den umfangreichen Mitteln des Sozialstaates erkauft hat. Sie ist auch eine Quelle neuer Kraft für eine alternde Gesellschaft.
Deutschland braucht Zustrom
Deutschland ist das Land, dessen Pharmaindustrie in den Sechzigerjahren zu den frühesten Produzenten der Antibabypille gehörte. Kein anderes Land hat sich früher und umfassender dieser Methode der Geburtenkontrolle verschrieben. Die Konsequenz war, dass die deutsche Fertilitätsrate bereits Anfang der Siebzigerjahre sehr stark zurückging, sechs Jahre vor Italien, zehn Jahre vor Spanien und über 20 Jahre vor Polen, um nur einmal drei typische Beispiele zu wählen.
Heute schlägt der Erfolg der Pharmaindustrie zurück, denn die stärkste Bevölkerungsgruppe der Deutschen ist Mitte fünfzig, und nach ihr folgten immer dünner besetzte Kohorten. Stagnation und Siechtum wären programmiert, wenn Deutschland seine Migranten nicht hätte. Tatsächlich braucht Deutschland einen ständigen Zustrom von leistungswilligen Menschen, um das Bevölkerungsvakuum, das die pharmazeutische Forschung erzeugte, wieder zu füllen.
Die Pharmaindustrie profitiert nun von den Innovationen zweier Immigrantenkinder, die sie selbst wegen des von ihr erzeugten Vakuums nach Deutschland gelockt hat. Ugur˘ Sahin¸ und Özlem Türeci sind zwei Pioniere der innovativen Genforschung, die der Pharmaindustrie, der deutschen Wirtschaft und der ganzen Welt nun wieder neuen Atem und Leben einzuhauchen verspricht.
Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwiss. (Uni München), war Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Diese Fassung wurde stark gekürzt. www.project-syndicate.org