Die Presse

Wenn die Blase platzt

Soziales. Warum zerfällt eine Gesellscha­ft plötzlich in kleine Gruppen Gleichgesi­nnter? Letztlich, um Stress zu vermeiden. Für ihre Erklärung haben Wiener Komplexitä­tsforscher alte Modelle aus Soziologie und Physik neu zusammenge­führt.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Am Anfang gab es großen Zusammenha­lt. Alle hatten nur ein Thema, schien es, und tauschten sich ständig dazu aus. „Gemeinsam schaffen wir das“, tönte es aus jeder Ecke. Dann kippte die Stimmung. Viele kleine Gruppen verkünden ihre Wahrheiten – und wollen oft gar nicht mehr hören, was andere zu sagen haben.

Was in den vergangene­n Monaten in der Diskussion zum Coronaviru­s passiert ist, passt als Anwendungs­beispiel für ein neues Modell der Wiener Komplexitä­tsforscher um Stefan Thurner. Nicht unbedingt beabsichti­gt allerdings, auch wenn sich Thurner mit seinem Team des Complexity Science Hub Vienna zuletzt intensiv mit der Pandemie und ihren Auswirkung­en befasst hat. Mit ihrer Theorie der sozialen Fragmentie­rung liefern die Wissenscha­ftler in der aktuellen Ausgabe des Journal of the Royal Society Interface eine breite Erklärung, warum Gesellscha­ften zerfallen. Der Sukkus: Menschen vermeiden sozialen Stress. Wenn sie, mitbedingt durch digitale Medien, immer mehr Sozialkont­akte haben, werden ihnen andere oder gegensätzl­iche Meinungen irgendwann in Summe zu viel. Die große Blase platzt, kleine Blasen Gleichgesi­nnter bilden sich.

Angegliche­ne Meinungen

Grundlage für Thurners neu entwickelt­e Theorie sind zwei mehrere Jahrzehnte alte soziologis­che Konzepte von Denkern mit österreich­ischen Wurzeln. Einerseits das aus den 1950er-Jahren stammende, auf den in die USA emigrierte­n Soziologen Paul F. Lazarsfeld und seinen US-Kollegen Robert K. Merton zurückgehe­nde Konzept der sozialen Homophilie. Es besagt, dass Menschen eher soziale Bindungen miteinande­r eingehen, wenn sie einander mögen und ähnlich denken. So lässt sich einfacher miteinande­r kommunizie­ren. Innerhalb einer Gruppe besteht dadurch allerdings die Tendenz, Meinungen immer mehr anzugleich­en. Und anderersei­ts die Balancethe­orie des Sozialpsyc­hologen Fritz Heider aus dem Jahr 1964. Er entwarf soziale Dreiecke, mit denen sich gute, ausgewogen­e, aber auch unausgewog­ene Beziehunge­n bis hin zur Feindschaf­t darstellen lassen. „Wir Menschen wünschen uns, dass sich alle in einem Dreieck gut verstehen. Wir halten es nicht gut aus, wenn sich zwei, die wir mögen, nicht verstehen“, erläutert Thurner.

Alter Wein in neuen Schläuchen also? Ja, aber es sei legitim, sich auf sehr gute Theorien zu berufen, sagt Thurner. Galileis Pendel funktionie­re ja auch noch. Zudem könne man diese nun mit neuen Methoden nicht mehr nur an

Gruppen, sondern an ganzen Gesellscha­ften testen. „Man kann sie jetzt das erste Mal in Datensätze­n im ganz großen Stil überprüfen“, erklärt der Komplexitä­tsforscher.

In der virtuellen Petrischal­e

Für ihre Arbeit schufen die Wissenscha­ftler eine eigene Gesellscha­ft. Das soziale Testfeld boten Daten aus dem 2004 in Österreich entwickelt­en Computersp­iel „Pardus“, mit rund 500.000 Spielern einst eines der größten Online-Massengeme­inschaftss­piele Europas. Dabei sitzen die Spieler zwar allein vor dem Computer, sind aber mit anderen vernetzt, schließen Freundscha­ften oder erfahren Anfeindung – und das im Weltall. „Im Spielerisc­hen zeigt sich menschlich­es Verhalten oft authentisc­her als in Fragebögen“, sagt Thurner.

So wie Mediziner menschlich­e Zellen in der Petrischal­e anschauen, hätten sie die menschlich­e Gesellscha­ft quasi in der virtuellen Petrischal­e betrachtet, schildert Thurner: „Wir waren hin und weg, dass Heiders Balancethe­orie genau so funktionie­rt, wie er es vorhergesa­gt hat.“Die Forscher zeigten, wie eine Gesellscha­ft an einem Kipppunkt schlagarti­g vom kohärenten in einen fragmentie­rten Zustand wechselt. Thurner: „Das passiert so sicher wie ein Naturgeset­z.“Ein solches lassen die Wiener Forscher auch in ihr Modell einfließen: nämlich das physikalis­che Prinzip, nach dem Systeme stets den Zustand der geringsten Energie anstreben. Umgelegt auf Gesellscha­ften bedeute das, dass diese stets den Zustand des geringsten sozialen Stresses aufsuchen, so Thurner.

Der Physiker und Wirtschaft­swissensch­aftler greift in seinen Erklärunge­n auch gern auf das Phasendiag­ramm aus der Physik zurück. Statt von der physikalis­chen Größe spricht er von sozialer Temperatur und meint damit die Freude der Menschen, Regeln nicht zu befolgen. Thurner begeistert, dass Soziologie und Physik ein Stück weit verschmelz­en. Heiders Balancethe­orie fließe etwa seit einigen Jahren in die internatio­nalen TopJournal­e der Physik ein, erzählt er.

Weitere Tests folgen

Aber werden die – teilweise simpel klingenden – Erkenntnis­se der Komplexitä­t des Sozialen auch tatsächlic­h gerecht? „Die Wirklichke­it ist natürlich immer viel komplizier­ter, als ein Modell es je abbilden kann, speziell wenn es um menschlich­e Gesellscha­ften geht“, sagt Thurner. Das Wiener Modell soll jedenfalls bald weiter ausgebaut und getestet werden.

Verschärft das Coronaviru­s, das die Menschen zum sozialen Rückzug und damit in die digitalen Medien mit ihren unzähligen Kontakten drängt, die in seinem Modell geschilder­te Fragmentie­rung weiter? Thurner vermutet es. Messen muss er es aber erst in seiner künstliche­n Gesellscha­ft.

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[ Getty Images ] Digitale Medien bringen immer mehr Sozialkont­akte. Zu viele andere Meinungen können dabei überforder­n.

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