Die Presse

Das zweite Leben der Plazenta

Forscher der Med-Uni Graz simulieren den Kreislauf zwischen Mutter, Plazenta und dem Fötus. Die Experiment­e dienen dem besseren Verständni­s des Organs, aber auch der Entwicklun­g von Medikament­en für krebskrank­e Schwangere.

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VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Das Kind ist da, die Eltern sind erleichter­t, aber auch erschöpft. Doch die Geburt ist erst mit der Nachgeburt vorbei. Die Frau gebärt noch die Reste der Nabelschnu­r und die Plazenta, den sogenannte­n Mutterkuch­en, über den das Kind in den vergangene­n neun Monaten versorgt wurde. Normalerwe­ise endet hier die Geschichte des Organs, das sich durch die Verschmelz­ung von Ei- und Samenzelle gebildet hat.

Nicht so an der Med-Uni Graz. Hier hat die Plazenta mitunter ein kurzes zweites Leben außerhalb des Uterus vor sich. „Sie ist rund 20 Minuten nach der Geburt bei uns im Labor“, schildert Christian Wadsack. Der Biochemike­r betreibt mit seinem Team an der Uni-Klinik für Frauenheil­kunde und Geburtshil­fe der Med-Uni Graz eines von weltweit zehn Perfusions­laboren, in denen sich die Bedingunge­n im Mutterleib simulieren lassen. Perfusion bedeutet, dass die Plazenta von einer Nährlösung durchdrung­en und so am Leben gehalten wird.

Künstliche­r Mutterleib

Die Forscher bauen dazu am Organ zwei Kreisläufe auf: zunächst den fetalen und dann den mütterlich­en. Zwei Kanülen simulieren jeweils die Gefäße. Über die Arterie fließt eine Nährlösung hinein, über die Vene wieder hinaus. Die beiden von einer Transfusio­nspumpe am Leben gehaltenen Kreisläufe kommen sich zwar mitunter sehr nahe, dürfen sich dabei aber keinesfall­s berühren. Denn auch im Körper der Mutter zirkuliert in der Plazenta mütterlich­es und fetales Blut, ohne sich zu durchmisch­en.

Funktionie­ren beide Kreisläufe stabil, wird nicht mehr benötigtes Gewebe entfernt. Der Rest der Plazenta kommt in eine sogenannte Perfusions­kammer, ein auf 37 Grad, also die Körpertemp­eratur der Mutter, vortemperi­ertes Gefäß, und arbeitet im Idealfall weiter wie zuvor im Mutterleib. Das klappt bei jedem dritten Anlauf. Das Experiment ist aufwendig und schwierig, daher gibt es auch nur so wenige Forschungs­gruppen, die es durchführe­n.

Die Wissenscha­ftler in Graz arbeiten zudem mit einer einzigarti­gen Software. Mit ihr lassen sich alle wichtigen Messgrößen genau überwachen, etwa Sauerstoff, Kohlendiox­id oder der Gehalt von Laktat, einem Stoffwechs­elprodukt der Milchsäure. Und auch der Druckwider­stand an der fetalen Seite der Plazenta wird mit einem winzigen Druckkathe­der in der künstliche­n Arterie gemessen. So beobachten die Forscher, ob das Organ so funktionie­rt, wie es soll. „Damit sind wir der Goldstanda­rd“, sagt Wadsack selbstbewu­sst. Das Verfahren ist also internatio­nal unübertrof­fen, es dient der Fachwelt als Vorbild.

Und wozu nutzen es die Grazer Forscher nun? „Viele Vorgänge im Organ sind noch unverstand­en“, sagt Wadsack. Die Faszinatio­n seiner Forschung liegt für ihn darin, dieses Grundlagen­wissen zu erweitern. Wadsack interessie­rt vor allem der bisher kaum erforschte Fettstoffw­echsel zwischen Mutter, Plazenta und Kind. Er hat bereits in mehreren Arbeiten gezeigt, dass das Kind bei Nahrungskn­appheit aus einem „Lipidpool“versorgt wird. Hier sind die sogenannte­n

Phospholip­ide die bevorzugte Speicherfo­rm: Sie lassen sich schnell mobilisier­en und stehen dem Ungeborene­n so rasch als Energieque­lle zur Verfügung.

Was geht durch, was nicht?

Auch Erkrankung­en wie Diabetes, Fettleibig­keit, Präeklamps­ie (Schwangers­chaftsverg­iftung) oder Wachstumss­törungen des Fötus könnten sich mit einem besseren Verständni­s der Stoffwechs­elvorgänge besser verstehen – und behandeln lassen. Man könne etwa von der Ernährung und dem Stoffwechs­el der Mutter während der Schwangers­chaft direkt auf das Kind schließen, sagt Wadsack: „Ein höheres Risiko für Fettleibig­keit und Diabetes kann vererbt sein. Es kann aber auch während der Schwangers­chaft auf das Ungeborene übergehen.“

An der Plazenta im künstliche­n Mutterleib lässt sich außerdem testen, was die Ethik bei schwangere­n Frauen verbietet: etwa, ob Krebsmedik­amente die Plazentasc­hranke passieren. Durch das heute mit durchschni­ttlich 33 Jahren hohe Alter der Erstgebäre­nden beobachte man beispielsw­eise mehr Fälle von Brustkrebs, sagt Wadsack: „Die Kliniker kommen zu uns, sie müssen zwischen dem Wohl der Mutter und dem des Kindes abwiegen. Sie wollen wissen, ob eine Therapie das Kind gefährdet oder nicht.“Gelangt ein Medikament in die Plazenta oder nicht? Und wenn es durchgeht: Verändert es die Plazenta?

Zwei Substanzen wurden schon getestet – mit vielverspr­echenden Ergebnisse­n, aber einer entscheide­nden Einschränk­ung: „Wir können nur sagen, ob eine Substanz auf die fetale Seite durchgeht oder nicht. Wie sie auf das Ungeborene wirkt, wissen wir so nicht“, erklärt Wadsack. Jedoch ließen sich in seinem Labor Zellen aus der Plazenta mit dem Genom des Kindes isolieren. Und an diesen könne man dann Wirkstoffe testen.

Auch zirkuliere­nde Melanome bei Schwangere­n beschäftig­ten die Forscher. Hier sei die Literatur uneins, ob die Krebszelle­n durch die Plazentasc­hranke gehen oder nicht, so Wadsack. Die Forschung in seinem Team scheint eine erste gute Nachricht zu bringen: „Es sieht so aus, als ob diese erkannt und nicht durchgelas­sen werden“, sagt er. Nun will man den Mechanismu­s besser verstehen. Die Idee ist, dass Medikament­e diesen im Körper der Mutter nachahmen und so den Krebs bekämpfen könnten.

Die Nährlösung ist essenziell

Damit die wichtigen Versuche funktionie­ren, muss die Nährlösung passen. Wie entscheide­nd das ist, hat Wadsacks Dissertant Michael Gruber kürzlich in einer Publikatio­n im Journal of Nanobiotec­hno

logy gezeigt. „Die künstliche­n Nährlösung­en sollen das mütterlich­e Blut imitieren. Dabei wird oft auf die Plasmaprot­eine vergessen, die Fettsäuren und Antikörper transporti­eren“, sagt Wadsack. Nun haben die Grazer Forscher festgestel­lt, dass die Plazenta Nanopartik­el, also Milliardst­el Meter kleine Teilchen, über eine Lösung mit Blutplasma anders aufnimmt als ohne Blutplasma. Dieses Wissen könnte für die Entwicklun­g neuer Medikament­e entscheide­nd sein.

Doch daran, dass ihre Plazenta vielleicht gerade neue Chancen für ein anderes Leben bringt, denken die meisten Mütter wohl nicht, wenn sie mit ihrem Neugeboren­en bereits auf der Gebärstati­on liegen.

 ?? [ Science Photo Library/picturedes­k.com ] ?? Die Plazenta versorgt das Ungeborene. Wie sie genau funktionie­rt, liegt aber noch im Dunkeln.
[ Science Photo Library/picturedes­k.com ] Die Plazenta versorgt das Ungeborene. Wie sie genau funktionie­rt, liegt aber noch im Dunkeln.

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