Die roten Inseln der Erinnerung
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber das stimmt nur halb. Besuch im Bermuda-Dreieck.
Nach einem Gang jetzt durch das Bermuda-Dreieck schweben im dunklen Erinnerungsraum rot oder rötlich leuchtende Inseln, deren Uferlinien bald vorspringen, bald stellenweise sich einschnüren oder überhaupt schwinden, von dir weg, fort ins Dunkle. Ein wenig erinnert das an richtige Inseln im Meer, die, geht die Sonne unter, allmählich in der Nacht untergehen – bis auf einzelne Lichter, die die längste Zeit noch zu dir herüberleuchten: Molen, Hafenpiers, Schiffe auf der Reede . . .
Das Dunkel, das die hellen Inseln im Bermuda-Archipel umgibt, ist gar nicht fest und einheitlich schwarz: Vielmehr entwickeln sich daraus, je länger du hineinstarrst, Gestalten, menschliche Umrisse recken sich: Ja, es sind lebendige Menschen, die da in der Dämmerung still und wie gebannt stehen, gerade so, als warteten sie auf etwas. Die größte der Inseln im Archipel findet sich am Friedman-Platz, gleich oberhalb der Treppe. Andere an der Ruprechts-Kirche vorn, wieder andere fließen die Seitenstettengasse hinunter, wieder andere schmiegen sich an den Fuß der Treppe, die vom Fleischmarkt heraufführt.
Und kämst du auch am hellsten Tag in diese Inselwelt, es wäre doch nur leidlich hell da. Wie das? Dunkelheit strömt von den Menschen aus, kommt mir vor. Das Schwere, das Dunkle, sie gehören wohl zusammen. Zwar scheint die Sonne ja auch für die Traurigen und Bedrückten: Offenbar dringen aber ihre Strahlen nicht allzu tief ein, dringen nicht in die Tiefe.
Wie oft bin ich im Lauf der Jahre im sogenannten Bermuda-Dreieck gewesen, zu einer Zeit auch, als es noch gar nicht das Bermuda-Dreieck gewesen ist. Vielmehr war es ein mehrheitlich von jüdischen Händlern belebtes Textilviertel, wo man Jeans, aber auch Anzüge, Mäntel erstehen konnte. Im karibischen Bermuda-Dreieck sollen gelegentlich Schiffe verschwunden sein, hier, rund um die Ruprechtskirche, gelegentlich ein allzu gut Aufgelegter. Früher, seinerzeit, ist keiner verloren gegangen, vielmehr, meist kam er mit einer bunten Plastiktüte voll billiger Klamotten wieder heraus. Damals war das Bermuda-Dreieck so etwas wie der letzte Rest einer geschlossenen jüdischen Kaufmannswelt.
Der große Tempel steht in der Seitenstettengasse. An seiner Rückseite, eben am Friedman-Platz, findet sich eine Erinnerungstafel, gewidmet Nathan Fried und Sarah Kohut, die hier Anfang der Achtzigerjahre einem palästinensischen Terrorkommando zum Opfer fielen. Sie wurden erschossen.
Der Täter von 2020 stammte aus Nordmazedonien, war Angehöriger der albanischen Minderheit. Seiner Opfer wird nun gedacht, mit Lichtern, Kränzen und Blumen. Vor dem Erinnerungsmal für die beiden Opfer aus den Achtzigerjahren gibt es keine Lichter und Blumen.
Wie oft bin ich aus dem Kino am Fleischmarkt, aus dem unterirdischen Labyrinth seiner Säle, ins Freie getreten – bald nachdenklich, dann wieder belustigt, gut unterhalten oder, im abträglichen Fall, mürrisch – was man in Wien angefressen nennt. Über die Treppe zum Friedman-Platz hinauf. Kurz hebe ich den Blick zum Himmel, als wollte ich mich vergewissern: Die Sterne sind da! Da – die Sterne!
Mit dem Bermuda-Dreieck von früher sind für mich etliche Gewohnheiten verbunden, stereotype Verhaltensweisen, könnte man sagen. Indem ich das aufschreibe, merke ich: Es wird nicht mehr so sein wie früher. Du wirst nicht mehr bei der englischen Buchhandlung vorbeischauen, als müsste das so sein. Gehst du am Rabensteig herauf Richtung Seitenstettengasse, wirst du nicht mehr, ein wenig versonnen, an die Zeiten denken, als das „Krah-Krah“das erste und einzige Lokal hier war. Deine Gewohnheit, vor einem Mittagessen im „Salzamt“stets auf den Söller vor der Ruprechtskirche zu treten und über die Vorstadt jenseits des Flusses hinzuschauen, mit ihr wird es vorbei sein.
Es sei denn, dass die Zeit wie eine mächtige, gewaltige, ja eine riesige Welle grauen, kalten, schmutzigen Flusswassers über das Bermuda-Dreieck hereinbricht und alles, alles fortschwemmt, was dort einmal geschehen ist.
Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber das stimmt nur halb. Die Narben bleiben. Nur denkt keiner an sie.