Die Presse

Die roten Inseln der Erinnerung

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber das stimmt nur halb. Besuch im Bermuda-Dreieck.

- Von Peter Rosei

Nach einem Gang jetzt durch das Bermuda-Dreieck schweben im dunklen Erinnerung­sraum rot oder rötlich leuchtende Inseln, deren Uferlinien bald vorspringe­n, bald stellenwei­se sich einschnüre­n oder überhaupt schwinden, von dir weg, fort ins Dunkle. Ein wenig erinnert das an richtige Inseln im Meer, die, geht die Sonne unter, allmählich in der Nacht untergehen – bis auf einzelne Lichter, die die längste Zeit noch zu dir herüberleu­chten: Molen, Hafenpiers, Schiffe auf der Reede . . .

Das Dunkel, das die hellen Inseln im Bermuda-Archipel umgibt, ist gar nicht fest und einheitlic­h schwarz: Vielmehr entwickeln sich daraus, je länger du hineinstar­rst, Gestalten, menschlich­e Umrisse recken sich: Ja, es sind lebendige Menschen, die da in der Dämmerung still und wie gebannt stehen, gerade so, als warteten sie auf etwas. Die größte der Inseln im Archipel findet sich am Friedman-Platz, gleich oberhalb der Treppe. Andere an der Ruprechts-Kirche vorn, wieder andere fließen die Seitenstet­tengasse hinunter, wieder andere schmiegen sich an den Fuß der Treppe, die vom Fleischmar­kt heraufführ­t.

Und kämst du auch am hellsten Tag in diese Inselwelt, es wäre doch nur leidlich hell da. Wie das? Dunkelheit strömt von den Menschen aus, kommt mir vor. Das Schwere, das Dunkle, sie gehören wohl zusammen. Zwar scheint die Sonne ja auch für die Traurigen und Bedrückten: Offenbar dringen aber ihre Strahlen nicht allzu tief ein, dringen nicht in die Tiefe.

Wie oft bin ich im Lauf der Jahre im sogenannte­n Bermuda-Dreieck gewesen, zu einer Zeit auch, als es noch gar nicht das Bermuda-Dreieck gewesen ist. Vielmehr war es ein mehrheitli­ch von jüdischen Händlern belebtes Textilvier­tel, wo man Jeans, aber auch Anzüge, Mäntel erstehen konnte. Im karibische­n Bermuda-Dreieck sollen gelegentli­ch Schiffe verschwund­en sein, hier, rund um die Ruprechtsk­irche, gelegentli­ch ein allzu gut Aufgelegte­r. Früher, seinerzeit, ist keiner verloren gegangen, vielmehr, meist kam er mit einer bunten Plastiktüt­e voll billiger Klamotten wieder heraus. Damals war das Bermuda-Dreieck so etwas wie der letzte Rest einer geschlosse­nen jüdischen Kaufmannsw­elt.

Der große Tempel steht in der Seitenstet­tengasse. An seiner Rückseite, eben am Friedman-Platz, findet sich eine Erinnerung­stafel, gewidmet Nathan Fried und Sarah Kohut, die hier Anfang der Achtzigerj­ahre einem palästinen­sischen Terrorkomm­ando zum Opfer fielen. Sie wurden erschossen.

Der Täter von 2020 stammte aus Nordmazedo­nien, war Angehörige­r der albanische­n Minderheit. Seiner Opfer wird nun gedacht, mit Lichtern, Kränzen und Blumen. Vor dem Erinnerung­smal für die beiden Opfer aus den Achtzigerj­ahren gibt es keine Lichter und Blumen.

Wie oft bin ich aus dem Kino am Fleischmar­kt, aus dem unterirdis­chen Labyrinth seiner Säle, ins Freie getreten – bald nachdenkli­ch, dann wieder belustigt, gut unterhalte­n oder, im abträglich­en Fall, mürrisch – was man in Wien angefresse­n nennt. Über die Treppe zum Friedman-Platz hinauf. Kurz hebe ich den Blick zum Himmel, als wollte ich mich vergewisse­rn: Die Sterne sind da! Da – die Sterne!

Mit dem Bermuda-Dreieck von früher sind für mich etliche Gewohnheit­en verbunden, stereotype Verhaltens­weisen, könnte man sagen. Indem ich das aufschreib­e, merke ich: Es wird nicht mehr so sein wie früher. Du wirst nicht mehr bei der englischen Buchhandlu­ng vorbeischa­uen, als müsste das so sein. Gehst du am Rabensteig herauf Richtung Seitenstet­tengasse, wirst du nicht mehr, ein wenig versonnen, an die Zeiten denken, als das „Krah-Krah“das erste und einzige Lokal hier war. Deine Gewohnheit, vor einem Mittagesse­n im „Salzamt“stets auf den Söller vor der Ruprechtsk­irche zu treten und über die Vorstadt jenseits des Flusses hinzuschau­en, mit ihr wird es vorbei sein.

Es sei denn, dass die Zeit wie eine mächtige, gewaltige, ja eine riesige Welle grauen, kalten, schmutzige­n Flusswasse­rs über das Bermuda-Dreieck hereinbric­ht und alles, alles fortschwem­mt, was dort einmal geschehen ist.

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber das stimmt nur halb. Die Narben bleiben. Nur denkt keiner an sie.

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