Attentat in Loge zwei
Die erste Terrororganisation Europas schlug in Wien zu: 1925 wurde ein mazedonischer Freiheitskämpfer während einer Vorstellung im Burgtheater erschossen – die Folge einer internen Fehde. Der Konflikt in der Organisation zieht sich bis heute fort.
Den weißen Grabstein, den ich zu Allerheiligen auf dem Wiener Zentralfriedhof in der Nähe meines Familiengrabs entdeckte, hatte ich früher nie beachtet. Aber diesmal war ein roter Vermerk mit der bevorstehenden Grabauflösung darauf angebracht. Ein Todor Paniza ruht hier, gestorben am 8. Mai 1925. Als Sterbeort steht „Burgtheater Wien“eingraviert.
Diese Angabe machte mich neugierig. Vielleicht war der Mann Schauspieler und erlitt auf der Bühne einen Herzinfarkt, dachte ich zunächst arglos. Beim Tod eines normalen Zuschauers würde man doch nicht das Theater extra erwähnen. Ich fragte einen bulgarischen Freund nach dem Toten. Und der wusste sofort Bescheid. Ja, der Mann sei noch immer bekannt in Bulgarien, als Revolutionär der IMRO, der Befreiungsbewegung für Mazedonien, die Ende des 19. Jahrhunderts gegen die osmanische Okkupation und für die Unabhängigkeit eines mazedonischen Staates auf dem Balkan kämpfte. Doch häufig mordeten ihre Aktivisten lieber ihresgleichen. Todor Paniza wurde in einer Loge im Wiener Burgtheater erschossen, während der Vorstellung von Ibsens „Peer Gynt“. Als auf der Bühne ein Schiffsuntergang mit viel Theaterdonner nachgestellt wurde, krachten mehrere Schüsse. Drei Kugeln trafen den 42-jährigen Freiheitskämpfer tödlich, weitere vier verletzten seine Frau und seinen Leibwächter. Nach einer kurzen Schreckenspause wurde die Vorstellung fortgesetzt, wohl auch, um eine Panik zu vermeiden.
Die 25-jährige Täterin stammte ebenfalls aus Mazedonien. Menicia Carniciu – nach ihrer mazedonisch-rumänischen Abstammung – oder bulgarisch Menitscha Karnitschewa ließ sich vom bleichen Billeteur widerstandslos entwaffnen und dann vom diensthabenden Polizisten festnehmen. Ihr Opfer sei ein „schlechter Mazedonier“gewesen, sagte sie. Dies sei die Rache dafür, dass er zwei Kameraden seiner Kampforganisation ermordet habe und später die Befreiungsbewegung spalten wollte, erklärte sie später im Verhör.
Sie war mit der in Wien lebenden Schwägerin des Opfers gut bekannt. Monatelang wohnte sie in deren Wohnung im siebenten Bezirk. Und über diese fädelte sie ihren Mordplan ein: Sie lud ihr Opfer und ihre bulgarischen Freunde ins Burgtheater ein und besorgte auch die Karten. Dies sei ihr Dank für die freundliche Aufnahme in Wien durch die Schwester der Ehefrau Panizas.
Im Verhör erklärte sie auch die Wahl des Tatortes. Sie wusste, dass Todor Paniza stets von einem oder mehreren Leibwächtern begleitet wurde und selber einen Revolver dabei hatte – aus Angst vor Attentaten. Auf offener Straße erschien ihr ein Mordanschlag daher zu gefährlich. So beschloss sie, ihn im Burgtheater während der Vorstellung zu erschießen, weil er dann abgelenkt wäre und sie zudem genau hinter ihm sitzen würde.
Täterin und Opfer: Sie alle haben mit Mazedonien zu tun, der heutigen Republik Nordmazedonien. Seltsame Parallele: Auch der Täter vom Terroranschlag in der Wiener Innenstadt am 2. November hat mazedonische Wurzeln. Es war das einzige Attentat im Burgtheater, bestätigt man mir im Büro der Direktion. Sonst würde nur auf der Bühne gemordet und gestorben, von „Wilhelm Tell“bis „Julius Caesar“. Doch damals floss echtes Blut. Die Loge zwei rechts im dritten Rang blieb noch einige Tage nach dem Mord abgesperrt. Zuerst mussten die Blutflecken an der Brüstung beseitigt werden.
„Fremdländische Gesellschaft“
Die Tat war im Wien der Ersten Republik naturgemäß Thema des Tages, auch international wurde darüber berichtet. Mehrere Blätter kritisierten den Umstand, dass eine „fremdländische Gesellschaft“ungehindert mit Waffen in der Wiener Innenstadt herumspazieren und ins Burgtheater gehen konnte. Eine achtschüssige Pistole der Marke Mauser habe jeweils Mörderin, Opfer und Leibwächter verwendet. Die sei besonders durchschlagskräftig, wie man an den Verletzungen der Opfer festgestellt habe. Wie leicht hätten doch andere Besucher der Aufführung getroffen werden können. Mehrere Zeitungen beschrieben seltsam detailgetreu die Einschusskanäle und Austrittsöffnungen bei den Opfern: vom Hinterhaupt zum Nasenbein und so weiter. Ein Blatt meldete sensationsgierig, die Attentäterin sei ein „schwaches, schwer krankes Mädchen“, das den Revolver ständig in einem Beutel an der „seidenen Unterhose“bei sich getragen habe.
Anfangs herrschte Verwirrung um die wahre Identität des Mordopfers. Zunächst wurde der Mord an einem Dimitri Arnautovich gemeldet. Unter diesem Namen hatte Paniza mit seiner Frau in einem Hotel in Wien-Mariahilf eingecheckt. Paniza hatte familiäre Beziehungen zu Wien, wo eine Handelsniederlassung eines Verwandten gleichen Namens bestand.
Sein Lebenslauf wurde von den Unabhängigkeitskämpfen auf dem Balkan geprägt. Geboren in der Donaustadt Orjachowo, trat er schon als junger Mann der „Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation“(IMRO oder bulgarisch VMRO) bei. Diese wurde nach dem Berliner Kongress 1878 im osmanisch besetzten Mazedonien aktiv. Guerillakämpfer, Komitadschi genannt, verübten jahrzehntelang Überfälle, Mord- und Bombenanschläge. Gewissermaßen stellte diese Truppe die erste Terrororganisation in Europa dar. 1903 wurde sie nach einem Aufstand mit großer Grausamkeit bekämpft, worauf sich europäische Regierungen mit der „mazedonischen Frage“befassten und sogar Sicherheitskräfte in die Region schickten.
Die Organisation spaltete sich neuerlich. Es entstand ein Flügel, der serbienfreundlich war und für eine Konföderation von Balkanstaaten eintrat. Paniza schloss sich ihr an und wurde 1906 aus der ursprünglichen Organisation ausgeschlossen. Später ermordete er zwei ihrer Führer kaltblütig bei einem Abendessen. Er entkam dem Mordauftrag der IMRO und schloss sich im Ersten Weltkrieg dem bulgarischen Politiker Aleksander Stambolijski an. Der war an einem Putsch gegen den Zaren Bulgariens beteiligt. Stambolijski wurde begnadigt, danach Ministerpräsident und nahm 1919 an den Friedensverhandlungen in Neuilly-sur-Seine teil. Später schloss er ein Abkommen mit Jugoslawien zum Schutz der gemeinsamen Grenze. Damit konnte die IMRO nicht mehr ungehindert im serbischen Teil Mazedoniens operieren. Im Südosten Bulgariens, an der Grenze zum Königreich Jugoslawien, hatte die IMRO eine Region als Staat im Staate bis 1934 unter Kontrolle, mit eigenen Steuern und GuerillaAttacken gegen Jugoslawien.
Die IMRO organisierte mit bulgarischen Nationalisten 1923 einen Putsch gegen Stambolijski. Dieser wurde von IMRO-Kämpfern in seinem Heimatdorf inhaftiert, gefoltert und erschossen. Sein abgetrennter Kopf und seine Hand, mit der er die verhassten Abkommen unterzeichnet hatte, wurden nach Sofia geschickt. Paniza sympathisierte nach dem Ersten Weltkrieg mit den Kommunisten in Sofia und Moskau und baute eine IMROAbspaltung auf. Zu Recht fürchtete er daher
Mordpläne. Wiederholt hielt er sich in Wien auf, meist unter falschem Namen und mit einer Leibgarde beschützt. Paniza war wohlhabend, soll auch Zuwendungen von der Komintern aus Moskau erhalten haben.
Er kannte seine Mörderin, die in der mazedonischen Frauenbewegung aktiv war. Anfangs himmelte sie ihn noch als Helden an. 1924 trat sie dem nationalistischen IMROFlügel bei, nahm den Auftrag zum Mord an Paniza an, kaufte die Pistole in Sofia und reiste nach Wien. Beim Prozess erklärte sie neuerlich, dass sie Paniza aus politischen Motiven getötet habe. Sie wollte für die Organisation Rache üben: für die von Paniza ermordeten Aktivisten und den Verrat durch die kommunistische Abspaltung. Linke Blätter warfen ihr vor, sie habe im Auftrag der rechtsnationalen Regierung in Sofia gehandelt. Wegen ihrer angeblich schweren Erkrankung – Lungentuberkulose und Nierenleiden – erhielt sie eine Haftstrafe von nur acht Jahren. Wegen Haftunfähigkeit wurde sie schon Monate später entlassen und aus Österreich ausgewiesen. Sie kehrte nach Bulgarien zurück, wo sie 1927 den rechten IMRO-Anführer Ivan Michaijlow heiratete. Diese Heirat löste in der Wiener Presse höhnische Kommentare aus. Die Mörderin habe die Geschworenen mit ihrer angeblichen Krankheit getäuscht. Und es wurden Vergleiche zu einem anderen politischen Mord in Wien gezogen. Der Zahntechniker Otto Rothstock, ein früher Nationalsozialist, hatte im März 1925 den Publizisten und Schriftsteller Hugo Bettauer („Die freudlose Gasse“, „Die Stadt ohne Juden“) in seinem Büro erschossen. Er wurde freigesprochen und rühmte sich noch 1977 seiner Tat.
Die IMRO blieb weiter aktiv. 1934 erschossen Mitglieder mit Unterstützung der kroatischen Ustascha und Mussolinis den jugoslawischen König Alexander I. und den französischen Außenminister Louis Barthou in Marseille. Diese Tat löste 1936 die erste internationale Gesetzgebung gegen Terrorismus im Völkerbund aus. Doch da war die Befreiungsbewegung durch Armee und Sicherheitskräfte in Jugoslawien und Bulgarien weitgehend aufgelöst worden. Karnitschewa und ihr Mann mussten mehrmals flüchten, in die Türkei, später nach Kroatien und 1945 nach Rom, wo sie bis zu ihrem natürlichen Tod 1964 lebte.
Ein Denkmal in Orjachowo
Der alte Konflikt dauert bis heute fort: In der Republik Nordmazedonien und in Bulgarien existiert die Befreiungsbewegung weiterhin in Form einflussreicher Parteien, die miteinander verfeindet sind. In Nordmazedonien ist die frühere Regierungspartei VMREDPMNE gegen Bulgarien eingestellt. In Bulgarien sitzt die VMRO als kleine Koalitionspartnerin in der Regierung und stellt dort den Verteidigungsminister. Sie hat zuletzt ein Veto Bulgariens gegen einen EU-Beitritt Nordmazedoniens durchgesetzt, solange das Land nicht seine bulgarischen Wurzeln anerkennt und weiterhin auf einer eigenen Kultur und Sprache beharrt.
Bis heute gibt es ein Denkmal für Todor Paniza in seiner Geburtstadt Orjachowo an der Donau. Der Mord im Burgtheater wurde 2008 vom bulgarischen Dramatiker und Regisseur Ivan Stanev zu einem Stück verarbeitet. Dieses wurde erfolgreich in Straßburg, Paris und Berlin aufgeführt, nicht aber in Wien. „Die historische Parallele sehe ich darin, dass sich damals der Balkan in einer Annäherung zu Europa befand. Heute sind es die arabischen Länder, die in die Sphären der westlichen Welt eindringen“, so Stanev. „Anhand der Geschichte des Mordes im Burgtheater sieht man den Zusammenstoß der Kulturen besonders gut. Hier wird ,Peer Gynt‘ gespielt – ein Stück aus dem hohen Norden; hier gehen Mazedonier ins Theater mitten in Wien; das ist eine spannende Ausgangslage.“
Panizas Grabstätte auf dem Wiener Zentralfriedhof soll demnächst aufgelöst werden. Der von mir informierte Botschafter Bulgariens, Ivan Sirakov, besuchte inzwischen das Grab und wartet nun auf Weisungen aus dem Außenministerium in Sofia. Er überlegt, den weißen Grabstein abzumontieren und einem Museum in Sofia zuzuführen. Wenn nicht sein nordmazedonischer Kollege noch Ansprüche erhebt.