Das lesende Plastikschaf
Briefe an Amalia: Als Dein Finger in einem Loch stecken blieb – Dein Klinikbesuch.
Als Deine Mutter mit Dir in Nürnberg aus dem Zug stieg, schliefst Du. Du sahst ramponiert aus: Vom Haaransatz bis zu den Augenbrauen prangte eine große rote Schürfwunde auf Deiner Stirn. Am Vortag warst Du in Berlin gestürzt. Ich hatte Dich zwei lange Wochen nicht gesehen. In der Parkgarage erwachtest Du. Ich sah die Freude in Deinem Gesicht, als Du mich sahst. Ich durfte nicht losfahren. Du wolltest zu mir. Ich saß auf dem Fahrersitz und hielt Dich fest. Vorm Fenster war eine graue Wand.
Nach einer Weile fuhren wir los – zur Kinderklinik. Im Zug war Dein linker Zeigefinger in einem Loch stecken geblieben, Du warst weitergegangen. Sie habe Dich noch nie so schreien gehört, sagte Deine mitgenommene Mutter. Der Finger war angeschwollen. Hinter dem Eingang zur Klinik saß ein junger Mann mit Maske. Von hier an durfte nur eine Person weiter. Deiner Mutter wurde an der Stirn die Temperatur gemessen, ehe sie sich in die Schlange einreihte. Ich stellte mich mit Dir vor ein Aquarium mit bunten Fischen und dunklen Putzern, die Du aufmerksam betrachtetest und anzutippen versuchtest, wobei es Dich irritierte, dass sie davon unbeeindruckt blieben.
Nachdem Dir die Temperatur gemessen worden war und Ihr im Inneren der Klinik verschwunden wart, musste ich die Bank neben dem Aquarium räumen. Über den Johannisfriedhof, auf dem Albrecht Dürer und Ludwig Feuerbach begraben sind, spazierte ich zur nächsten Drogerie, um Windeln und Milch zu kaufen. Als ich in der Dämmerung an der Pegnitz entlangging, schrieb mir Deine Mutter, man habe Deine Hand nur von oben röntgen können, weil Du sie nicht habest umdrehen lassen, um sie auch aus anderen Winkeln röntgen zu lassen. Der Arzt habe Gewalt anwenden wollen, Deine Mutter sei mit Dir aus dem Zimmer, jetzt wartetet Ihr auf eine andere Form der Untersuchung.
Hermann, der blaue Bär
Auf der Fahrt nach Weißenburg gluckstest und brabbeltest Du fröhlich. Offensichtlich war nichts gebrochen. Ich konnte es kaum erwarten, in unsere Wohnung zu kommen. Ein paar Tage zuvor hatte ich das Zelt aufgebaut, das ich unter den Angeboten eines Supermarkts erspäht hatte. Hermann, Deinen blauen Bären, hatte ich in das Zelt gesetzt.
Ich sperrte die Tür auf, schaltete das Licht ein – Du schrittest direkt auf das Zelt zu. Du saßt Probe, hüpftest herum und plumpstest zu Boden. Du verstecktest Dich in den Ecken, lugtest aus dem Fenster an der Hinterwand und warfst einen Schnuller sowie eine Stoffkiwi hinaus. Alsbald schlepptest Du einen Großteil Deiner Tiere nach einem nur Dir ersichtlichen Plan in das Zelt. Dann gingst Du dazu über, Bücher aus Deiner Bücherkiste ins Zelt zu tragen. Als Du das Zelt verlassen hattest, wies mich Deine Mutter auf eine kleine Installation hin: Vorm Eingang lag ein großes Buch aufgeschlagen, das von einem kleinen Plastikschaf gelesen wurde.
Ich war glücklich darüber, wie Du mein erstes Geschenk annahmst. Von den vier Stangen, welche die Plane halten, hatte ich beim ersten Versuch nur zwei falsch aufgestellt. Beim Schlafenlegen turntest Du auf mir herum und schmiegtest Deinen Kopf an meinen, hüpftest im Bett herum und schlugst einen Purzelbaum. Nachts, als Du erwachtest, kam ich mit einer Flasche Milch. Seit geraumer Zeit protestierst Du leidenschaftlich, wenn ich es wage, Dir die Flasche an den Mund zu setzen. Du schreist kurz oder nimmst sie mir aus der Hand, um sie wortlos an Deine Mutter weiterzureichen. Also gab ich Deiner Mutter die Flasche, sie setzte sie Dir an den Mund – Du nahmst sie und reichtest sie an mich weiter.