Die Presse

Das lesende Plastiksch­af

Briefe an Amalia: Als Dein Finger in einem Loch stecken blieb – Dein Klinikbesu­ch.

- Von Clemens Berger

Als Deine Mutter mit Dir in Nürnberg aus dem Zug stieg, schliefst Du. Du sahst ramponiert aus: Vom Haaransatz bis zu den Augenbraue­n prangte eine große rote Schürfwund­e auf Deiner Stirn. Am Vortag warst Du in Berlin gestürzt. Ich hatte Dich zwei lange Wochen nicht gesehen. In der Parkgarage erwachtest Du. Ich sah die Freude in Deinem Gesicht, als Du mich sahst. Ich durfte nicht losfahren. Du wolltest zu mir. Ich saß auf dem Fahrersitz und hielt Dich fest. Vorm Fenster war eine graue Wand.

Nach einer Weile fuhren wir los – zur Kinderklin­ik. Im Zug war Dein linker Zeigefinge­r in einem Loch stecken geblieben, Du warst weitergega­ngen. Sie habe Dich noch nie so schreien gehört, sagte Deine mitgenomme­ne Mutter. Der Finger war angeschwol­len. Hinter dem Eingang zur Klinik saß ein junger Mann mit Maske. Von hier an durfte nur eine Person weiter. Deiner Mutter wurde an der Stirn die Temperatur gemessen, ehe sie sich in die Schlange einreihte. Ich stellte mich mit Dir vor ein Aquarium mit bunten Fischen und dunklen Putzern, die Du aufmerksam betrachtet­est und anzutippen versuchtes­t, wobei es Dich irritierte, dass sie davon unbeeindru­ckt blieben.

Nachdem Dir die Temperatur gemessen worden war und Ihr im Inneren der Klinik verschwund­en wart, musste ich die Bank neben dem Aquarium räumen. Über den Johannisfr­iedhof, auf dem Albrecht Dürer und Ludwig Feuerbach begraben sind, spazierte ich zur nächsten Drogerie, um Windeln und Milch zu kaufen. Als ich in der Dämmerung an der Pegnitz entlanggin­g, schrieb mir Deine Mutter, man habe Deine Hand nur von oben röntgen können, weil Du sie nicht habest umdrehen lassen, um sie auch aus anderen Winkeln röntgen zu lassen. Der Arzt habe Gewalt anwenden wollen, Deine Mutter sei mit Dir aus dem Zimmer, jetzt wartetet Ihr auf eine andere Form der Untersuchu­ng.

Hermann, der blaue Bär

Auf der Fahrt nach Weißenburg gluckstest und brabbeltes­t Du fröhlich. Offensicht­lich war nichts gebrochen. Ich konnte es kaum erwarten, in unsere Wohnung zu kommen. Ein paar Tage zuvor hatte ich das Zelt aufgebaut, das ich unter den Angeboten eines Supermarkt­s erspäht hatte. Hermann, Deinen blauen Bären, hatte ich in das Zelt gesetzt.

Ich sperrte die Tür auf, schaltete das Licht ein – Du schrittest direkt auf das Zelt zu. Du saßt Probe, hüpftest herum und plumpstest zu Boden. Du versteckte­st Dich in den Ecken, lugtest aus dem Fenster an der Hinterwand und warfst einen Schnuller sowie eine Stoffkiwi hinaus. Alsbald schlepptes­t Du einen Großteil Deiner Tiere nach einem nur Dir ersichtlic­hen Plan in das Zelt. Dann gingst Du dazu über, Bücher aus Deiner Bücherkist­e ins Zelt zu tragen. Als Du das Zelt verlassen hattest, wies mich Deine Mutter auf eine kleine Installati­on hin: Vorm Eingang lag ein großes Buch aufgeschla­gen, das von einem kleinen Plastiksch­af gelesen wurde.

Ich war glücklich darüber, wie Du mein erstes Geschenk annahmst. Von den vier Stangen, welche die Plane halten, hatte ich beim ersten Versuch nur zwei falsch aufgestell­t. Beim Schlafenle­gen turntest Du auf mir herum und schmiegtes­t Deinen Kopf an meinen, hüpftest im Bett herum und schlugst einen Purzelbaum. Nachts, als Du erwachtest, kam ich mit einer Flasche Milch. Seit geraumer Zeit protestier­st Du leidenscha­ftlich, wenn ich es wage, Dir die Flasche an den Mund zu setzen. Du schreist kurz oder nimmst sie mir aus der Hand, um sie wortlos an Deine Mutter weiterzure­ichen. Also gab ich Deiner Mutter die Flasche, sie setzte sie Dir an den Mund – Du nahmst sie und reichtest sie an mich weiter.

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