Als die Musiker im Studio weinten
Meister des kammermusikalischen Jazz mit intellektuellem Anspruch, wäre demnächst 100 Jahre alt geworden. Erinnerung an einen Einzelgänger, der stets seinem unkonventionellen Weg folgte.
In den 1950er-Jahren entwickelte sich in Kalifornien eine Variante des in New York entstandenen Cool Jazz, die bald West Coast Jazz genannt wurde. Weiße Musiker wie der Saxofonist Gerry Mulligan und der Trompeter Chet Baker spielten wie die Afroamerikaner Chico Hamilton am Schlagzeug und der Pianist Hampton Hawes eine bedeutende Rolle. Man zeigte sich interessiert am Swingstil, was die personelle Verflechtung prominenter West-Coast-Formationen mit der BigBand-Szene belegt. Das musikalische Vorbild der Saxofonisten des West Coast Jazz war Lester Young aus dem Count Basie Orchester. Eine besondere Stellung in der Hochblüte des West Coast Jazz nahm der aus Concord stammende Pianist Dave Brubeck ein. Er studierte am Mills College in Oakland Komposition bei Darius Milhaud und besuchte an der Universität von Kalifornien Vorlesungen von Arnold Schönberg. Wie Brubeck verfügten die meisten Vertreter des West Coast Jazz über eine solide Ausbildung. Ihre Musik war nicht tanzbar, sondern wandte sich an ein bürgerlich-intellektuelles Publikum. Ein Merkmal des West Coast Jazz ist die besondere Betonung von Arrangement und Komposition, ergänzt um raffinierte Improvisationstechniken und eine dynamische Differenzierung. Nach seinem Kriegseinsatz gründete Brubeck als 26-jähriger Student ein avantgardistisches Oktett: The Jazz Workshop Ensemble. Sein 1949 entstandenes Trio, dem der Perkussionist Cal Tjader angehörte, führte Brubeck zwei Jahre später in sein Quartett über, das er bis an sein Lebensende leitete.
Im Klavierspiel von Dave Brubeck finden sich viele Elemente europäischer Musik. Dave Brubeck erklärte einmal: „New Orleans ist die Stadt, in der alles anfing. Hier stießen die Kulturen aufeinander. Es entstand eine Verbindung, aus der eine unverwechselbare und einzigartige amerikanische Kunstform hervorging. Es gab den afrikanischen Einfluss, das rhythmische Element, den Drive, den Beat. Dazu kamen auf dem Weg über das französische New Orleans aus dem westlichen Europa das Gefühl für Harmonik, der tonale Aufbau und die Instrumente, die man verwendete. Heute gibt es zusätzlich zu diesen Einflüssen noch die Einflüsse der zeitgenössischen seriösen Komponisten: Bartok,´ Strawinsky, Milhaud und andere.“Von Milhaud, dessen Inspirationsquelle die afrikanische Musik war, übernahm Brubeck das Interesse an ungeraden Rhythmen. Wegen der Liebe zum Dreivierteltakt nannten Kritiker das Dave Brubeck Quartett einmal Jazz Waltz Quartet. Bis heute gilt dieses Ensemble als langlebigste, erfolgreichste Combo des Modern Jazz. In seiner besten Zeit bestand das Quartett aus Dave Brubeck, Paul Desmond, Eugene Wright und Joe Morello.
In den ersten Jahren des Quartetts gab es einen Expertenstreit, ob die Combo „swinge“. Einige Kritiker gingen sogar so weit, Dave Brubeck für den am meisten überschätzten Jazzmusiker zu halten. Internationalen Ruhm und Anerkennung der Fachwelt brachte schließlich das Album „Time Out“, das Eigenkompositionen enthielt, von denen fast keine im üblichen Viervierteltakt stand. „Blue Rondo a` la Turk“war eine besonders komplexe Nummer.
Der 90. Geburtstag in New York
Als ich beim Konzert des Quartetts anlässlich des 90. Geburtstages von Dave Brubeck 2010 im New Yorker Jazzclub Blue Note war, verlangte das geladene Publikum nach diesem Musikstück im Neunachteltakt. Es war berührend zu erleben, wie Brubeck mit dem Hinweis abwinken musste, die Interpretation dieser Komposition sei ihm bereits zu schwierig. Aber der zeitlose Welthit auf dem Album „Time Out“, das in den USA und in Großbritannien Platinstatus erreichte, sollte eine andere Komposition werden. Am 1. Juli 1959 nahm das Dave
Brubeck Quartett eine Komposition im Fünfvierteltakt auf. Während der Aufnahmen für „Time Out“registrierte Brubeck, dass Paul Desmond und Joe Morello in einer Pause im Fünfvierteltakt improvisierten. Er beauftragte sogleich seinen Altsaxofonisten mit der Komposition eines Musikstückes in dieser Taktart. Die Komposition umfasste 24 Takte. Im Mittelteil findet sich ein Schlagzeugsolo für Joe Morello. Paul Desmond, ein Meister der Improvisation, brillierte als Solist am Altsaxofon in der Erstaufnahme von „Take Five“. 1961 wurde „Take Five“als Single aus dem Album „Time Out“ausgekoppelt und innerhalb kurzer Zeit weltweit mehr als eine Million Mal verkauft. Es wurde damit zur bis dahin meistverkauften instrumentalen Jazzplatte.
Im Laufe der folgenden Jahrzehnte hat Dave Brubeck dieses Stück immer wieder neu eingespielt, ob mit Paul Desmond, Gerry Mulligan oder Bill Smith. Auch andere Jazzgrößen haben sich an dieser Nummer versucht, der Gitarrist George Benson, der Saxofonist Bud Shank oder die Sängerin Carmen McRae mit einem Text von Brubecks Frau, Iola. Später erfand der VokalAkrobat Al Jarreau dazu eine zusätzliche Scat-Linie. „Take Five“war so populär, dass es in der kommerziellen Werbung Verwendung fand. Bis zum Ende seiner Bühnenkarriere spielte Dave Brubeck den Straßenfeger in jedem Konzert. Paul Desmond, der 1977 starb, hinterließ die Rechte an „Take Five“dem amerikanischen Roten Kreuz. 2011 sollen die Tantiemen schon mehr als sechs Millionen Dollar eingebracht haben.
Desmond und Brubeck ergänzten einander wunderbar. Das letzte gemeinsame Konzert gaben sie wenige Monate vor dem Tod des Altsaxofonisten mit dem klaren fließenden Klang in New York. Desmond sagte einmal über Brubeck: „Wenn Dave in Hochform ist, wird sein Spiel zu einem Erlebnis, das Herz und Verstand gleichermaßen aufs Tiefste bewegt.“1954 war Brubeck als erster Musiker nach Louis Armstrong auf dem Cover des „Time Magazine“erschienen. Seit damals wurde er in Leserumfragen der wichtigsten amerikanischen Jazzpublikationen immer wieder zum Sieger gekürt.
Als „The Real Ambassadors“betitelt war eine Art Musical aus dem Jahr 1962. Die Musik stammte von Dave Brubeck und der kluge Text von dessen Frau, Iola. Das gleichnamige Album erschien zwei Jahre später unter Mitwirkung von Louis Armstrong und seinen All Stars, Dave Lambert, Jon Hendricks und Annie Ross, Carmen McRae, Dave Brubeck, Eugene Wright und Joe Morello. Für den Titelsong, interpretiert von Louis Armstrong, hatte Iola Brubeck einen politischen Text verfasst, der einen direkten Bezug zum Rassismus im Amerika der 1960erJahre herstellte. Armstrong, so heißt es darin, sei der wahre Botschafter der USA. Der afroamerikanische Jazzstar stehe für Gerechtigkeit und Rassengleichheit. 1956 hatte das amerikanische Außenministerium das Programm „Jazz Ambassadors“gegründet. Führende Jazzmusiker wurden als musikalische Botschafter der USA in Übersee eingesetzt, um das durch Rassenunruhen geprägte negative Image des Landes in der Welt zu verbessern. Die erste Tournee absolvierte der Trompeter Dizzy Gillespie 1956 mit einer 18-köpfigen Big Band in den Iran, nach Pakistan, in den Libanon, in die Türkei, nach Jugoslawien und Griechenland.
Ein paar Jahre später tourte Louis Armstrong im Rahmen des Programms durch Afrika. Dave Brubeck schrieb „The Real Ambassadors“als musikalisches Statement gegen den Rassismus. Louis Armstrong erkannte in der Einspielung von „The Real Ambassadors“eine willkommene Gelegenheit, das Thema mit seinen künstlerischen Mitteln anzusprechen. Am Ende der Aufnahme weinten alle im Studio. Armstrongs Leistung, Iola Brubecks Lyrik kombiniert mit Daves subtilem Pianospiel und dem Hintergrundgesang von Lambert, Hendricks & Ross schufen eine mächtige, emotionale musikalische Erfahrung für alle Beteiligten. Uraufgeführt wurde die Show live beim Monterey Jazz Festival 1962.
Dave Brubeck erfreute sich als Pianist als auch als Komponist der Anerkennung so unterschiedlicher Jazzlegenden wie Duke Ellington, Charlie Parker oder Cecil Taylor. Unter seinen Jazzkompositionen finden sich Titel wie „The Duke“oder „In Your Own Sweet Way“. Aber Brubeck tat sich auch als Komponist von sinfonischen Orchesterwerke, Oratorien, Kantaten, Balletten oder kammermusikalischen Werken hervor.
Kombination Jazz und Symphonie
Seit den 1950er-Jahren, als der Pianist Dave Brubeck mit seinen forcierten Blockakkorden in Jazzclubs und an amerikanischen Universitäten aufgefallen war, war er auch ein Vorreiter der Kombination von Jazz und sinfonischer Musik. So trat er mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein auf. Interpretiert wurde „Dialogues For Jazz Combo And Orchestra“von Howard Brubeck, Daves Bruder. Anlässlich seines 70. und 75. Geburtstages musizierte Dave Brubeck mit dem London Symphony Orchestra. Diese musikalische Kombination mit Brubecks langjährigem Manager Russell Gloyd am Dirigentenpult brachte auch ein Doppelalbum, „Classical Brubeck“, mit den Eigenkompositionen „Beloved Son“, „Pange Lingua Variations“, „Voice Of The Holy Spirit“und „Regret“hervor. Brubecks erstes großes Oratorium, „The Light In The Wilderness“, war 1968 vom Cincinnati Symphony Orchestra unter Erich Kunzel uraufgeführt worden. Seine Kantate „La Fiesta de la Posada“war der lateinamerikanischen Weihnachtstradition gewidmet und wurde vom St. Paul Chamber Orchestra unter Dennis Russell Davies auf Platte eingespielt. Und als Johannes Paul II. 1987 San Francisco besuchte, wurde Dave Brubeck mit der Komposition der Musik für die Papstmesse im Candlestick Park beauftragt.
Dave Brubeck gastierte durch drei Jahrzehnte nahezu jährlich hierzulande. 2004 konnte das österreichische Publikum beim Salzburger Jazz-Herbst und im Stephansdom das Dave Brubeck Quartett mit dem Mozarteum Orchester erleben. In seinem Werk „To Hope!“setzte sich Brubeck kompositorisch mit der Form der römisch-katholischen Messe auseinander. Sein Konzept der Verschmelzung von Jazz und Klassik erklärte Brubeck einmal so: „Strawinsky hat gesagt, dass Komposition selektive Improvisation ist. Wenn du das verstehst, verstehst du Musik. Wenn nicht, dann bist du ein Pedant.“Niemand beschrieb Brubecks Vielseitigkeit besser als sein Mentor Darius Milhaud: „Er war ein Einzelgänger, der seinem eigenen, unkonventionellen Weg folgte, entsprechend einem inneren Drang, der ihm keine Ruhe ließ.“