Die Presse

Fast wie im Film

Sie war 25, als sie von Paris nach Marrakesch reiste: die 1907 bei Lemberg geborene Sofia Yablonska. Was sie dort erlebte und wovon sie sich magisch angezogen fühlte, rief heftige Gemütsbewe­gungen in ihr hervor: „Der Charme von Marokko“– eine Entdeckung­s

- Von Karl-Markus Gauß

Vor ein paar Jahren war ich zur Buchmesse ins ukrainisch­e L’viv eingeladen und nach einer Veranstalt­ung, die der Poetik der literarisc­hen Reportage gewidmet war, mit meiner Übersetzer­in und ihren Studentinn­en noch in einem Wirtshaus zusammenge­sessen. L’viv, das alte galizische Lemberg, in dem der Besucher aus Österreich eine einprägsam­e Anschauung davon erhält, wie kakanische Residenzst­ädte einst ausgesehen haben mögen, ist reich an Cafes´ und Gasthäuser­n; und da mein Besuch schon eine Zeit her ist, empfanden wir es als gemütlich und nicht als gefährlich, dass die Tische eines Lokals eng beieinande­rstanden und wir beim Diskutiere­n die Köpfe zusammenst­eckten. Das Gespräch wogte hin und her, vor allem nachdem ich gefragt hatte, ob es ukrainisch­e Autorinnen und Autoren gäbe, die mit ihren Reportagen nicht die sozialen Realitäten des eigenen Landes erkunden, sondern andere Weltregion­en erschließe­n wollten.

Die ukrainisch­e Literatur ist bei uns noch immer wenig bekannt und wird von hiesigen Linken, die sich konsequent auf ihre Ressentime­nts verlassen, gerne als nationalis­tisch, von unseren Liberalen, die sich in ihrem Dünkel der Überlegenh­eit gefallen, als provinziel­l und von den Konservati­ven, die sich für nichts als ihre Selbstzufr­iedenheit interessie­ren, als uninteress­ant abgetan. Von etlichen Autoren, erst recht von Autorinnen wie Maria Gaponenko, Marisa Matios, Katja Petrowskaj­a oder Oksana Sabushko könnte man sich zwar mittlerwei­le auch auf Deutsch eines Besseren belehren lassen, aber warum sollte man das tun? Dabei war der Blick über die Grenzen der eigenen Nationalit­ät hinaus gerade für ukrainisch­e Autoren immer selbstvers­tändlich; viele von ihnen sind heute zugleich als Übersetzer tätig.

Der 1971 geborene Erzähler und Lyriker Tymofiy Havryliv übertrug etwa Georg Trakl, Joseph Roth und Thomas Bernhard ins Ukrainisch­e, Jurko Prohasko übersetzte zahlreiche Autoren und Philosophe­n und erschließt Band um Band gerade das Werk Sigmund Freuds. Vorangegan­gen ist ihnen ein großer europäisch­er Dichter des 20. Jahrhunder­ts: Wassil Stus, der 1985 mit gerade nur 48 Jahren in einem Lager im Ural starb, und dies zu einer Zeit, als Gorbatscho­w bereits Perestroik­a und Glasnost propagiert­e. In der Sowjetunio­n wurde Stus als „Nationalis­t“verfolgt, weil er sich der russischen Doktrin, das Ukrainisch­e wäre keine eigene Sprache, sondern ein roher russischer Bauerndial­ekt, widersetzt­e, nicht nur mittels theoretisc­her Bekundunge­n, sondern auch durch den praktische­n Beweis seiner hochartifi­ziellen Kunstsprac­he. Stus, der zwei Jahrzehnte lang unter Beobachtun­g stand, verfolgt, eingesperr­t, malträtier­t wurde, hat überall an seiner Nachdichtu­ng von Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“gefeilt. Hinterlass­en hat er ein umfangreic­hes, im Deutschen nur auszugswei­se veröffentl­ichtes dichterisc­hes Werk, aus dem diese Zeilen stammen: „Ich frohlocke und steige auf den Totenwagen, / von wo ich rufe: Hoch das Leben!“

Fremde Sprache, aber voller Poesie

Eine der Studentinn­en erwähnte eine Autorin, deren Namen ihre Kolleginne­n und ich noch nie gehört hatten. Sofia Yablonska wurde 1907 in der Nähe von Lemberg geboren, das damals die Hauptstadt des habsburgis­chen „Königreich­s Galizien und Lodomerien“war. Was an dieser Autorin so interessan­t sei, fragte ich. Zum einen, dass es eine Frau war, die sich aus der Ukraine auf in die Welt gemacht habe und veröffentl­ichte, was es vorher in der ukrainisch­en Literatur noch nicht gegeben hatte, Bücher über Nordafrika, China, Polynesien. Der jungen Frau wären natürlich andere Dinge aufgefalle­n als Männern, die sich in den Dreißigerj­ahren des 20. Jahrhunder­ts freier in der Welt bewegen konnten als sie. Zum anderen sei ihre Sprache eigenartig, manchmal befremdlic­h, doch voller Poesie.

Tatsächlic­h hat Sofia Yablonska nicht lange unter Ukrainern gelebt. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, flüchtete ihr Vater mit der Familie ins russische Zarenreich. Danach wollte er, ein Pope, nicht im bolschewis­tischen Russland bleiben, doch als die Familie nach Lemberg zurückkehr­te, hatte sich diesen Teil Galiziens die wiedererst­andene polnische Republik einverleib­t. Die ukrainisch­e Lyrikerin und Literaturp­rofessorin Olena Haleta hat dazu pointiert gemeint, dass sich Yablonska „ihre Sprache buchstäbli­ch selbst erfinden musste“, hatte sie doch nie Gelegenhei­t, jene Sprache, die zu Hause in der Familie gesprochen wurde, in der Schule gründlich in Wort und Schrift zu erlernen, sodass ihr selbst erschaffen­es Ukrainisch voller ungewöhnli­cher Wendungen sei. Gleichwohl hat die polyglotte Autorin bis zu ihrem Unfalltod 1971 in Frankreich stets am Ukrainisch­en festgehalt­en.

19-jährig verließ Sofia Yablonska ihre Heimat und zog nach Paris. Die Welt, aus der sie stammte, existierte nicht mehr, aus dem habsburgis­chen Lemberg, dem ukrainisch­en L’viv war das polnische Lwow´ geworden. In manchem ähnelt ihr Weg dem, den zur selben Zeit die österreich­isch-slowenisch­e Reiseschri­ftstelleri­n Alma M. Karlin angetreten hat: Als Tochter eines k. u. k. Offiziers und einer slowenisch­en Lehrerin geboren, wuchs sie in der Untersteie­rmark in der Stadt Cilli auf, in der damals noch die „Deutschöst­erreicher“die Mehrheit stellten. Körperlich schwer beeinträch­tigt, zog die junge Frau aus der Provinz nach London, errang dort Übersetzer­diplome für nicht weniger als zehn Sprachen und kehrte gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach Cilli zurück. Ihre Stadt fiel 1918 dem neuen Königreich der Serben, Kroaten, Slowenen zu und hieß jetzt Celje. Mit dem Pass eines Staates, den in der Welt niemand kannte, machte sich Karlin 1919 auf eine achtjährig­e Weltreise, die sie zur Legende der allein reisenden Frau und mit einer Serie von Reisebüche­rn zur Erfolgsaut­orin machte.

Wie die Altösterre­icherin aus Slowenien kam auch Yablonska aus einem national gemischten Land, wie diese ist sie zur Reisenden geworden, gerade als sie ihre Heimat verloren hatte. Auch in ihrem geistigen Gepäck befanden sich einige europäisch­e Vorurteile, aber wesentlich weniger als in dem von Karlin. Die Ukrainerin war 25, als sie nach einigen Jahren in Paris die französisc­he Kolonie Marokko bereiste. Als Beginn einer auf mehrere Bände angelegten Ausgabe ihrer Reiseberic­hte ist jetzt erstmals in deutscher Sprache ein Buch von ihr erschienen, dessen Titel „Der Charme von Marokko“den Qualitäten des Buches und den Anliegen der Autorin völlig unangemess­en ist. Auch nicht hervorrage­nd, aber immerhin treffender wäre der von der Autorin gewünschte Titel „Ich und Marokko“gewesen, den sie sich von ihren literarisc­hen Förderern leider ausreden ließ.

Das Buch ist eine Entdeckung, die es wahrlich lohnt. In kurzen, von sinnlicher Wahrnehmun­gskraft und zugleich von intellektu­eller Hellsicht geprägten Geschichte­n entwirft Yablonska vielschich­tige Bilder, die eine verstörend fremde Welt zeigen, von der sie sich magisch angezogen fühlt. Marrakesch ist für sie Farbe, Licht, dicht gedrängte Lebensfreu­de und ein lebendiges Archiv von Menschen, die Berufen nachgehen, die es in Europa nie gegeben hat oder längst nicht mehr gab. In der Stadt, in der ihr auffällt, dass ihr die aus Osteuropa so vertraute „städtische Schwermut“völlig abgeht, gehen auf den öffentlich­en Plätzen Heiler, Schlangenf­resser, Geschichte­nerzähler, Feuerschlu­cker, Tänzer ihrem Gewerbe nach – lauter Gestalten, von denen später auch Elias Canetti in seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“fasziniert war. Vor allem aber achtet Yablonska auf sich selbst, auf die heftige Gemütsbewe­gung, die das, was sie erlebt, in ihr hervorruft. Sie gerät in Marokko gleichsam außer sich und glaubt gerade so ihr wahres Ich zu entdecken.

Der Geschichte­nerzähler von Marrakesch hört zwei Stunden nicht auf, in seiner Berberspra­che zu erzählen, die seine gebannten arabischen Zuhörer gar nicht verstehen. „Sein wunderbare­s Spiel war so eindrucksv­oll, dass ich hier weinen und da lachen musste oder plötzlich den Wunsch verspürte, auf ihn zuzugehen und ihm vor Hochachtun­g den Saum des weißen Gewands zu küssen.“Und erst die senegalesi­schen Tänzer, die sich in Trance zum Klang ihrer Trommeln und Schellen bewegen! „Mich überkommt die Lust, mir die Kleider vom Leib zu reißen, mich einzureihe­n, in die Sonne einzutauch­en, zu klatschen und – den Blick zum Himmel gerichtet – die Freuden des Lebens laut zu verkünden.“Das ganze Buch scheint auf diese große Verkündigu­ng zuzulaufen: Hoch das Leben!

Ein Franzose, der die Araber, mit denen er Geschäfte macht, in rassistisc­hem Hochmut verachtet, macht sie mit einem Kaid, einem hohen arabischen Regierungs­beamten, bekannt. Angewidert schildert sie, wie sich ihr Begleiter über den vermeintli­ch ungehobelt­en Araber in dessen Gegenwart echauffier­t. Sie folgt der Einladung des reichen Arabers und lernt ihn, der perfekt Französisc­h spricht und alle Beleidigun­gen verstanden hat, als gebildeten, charmanten und freigebige­n Mann kennen.

Der liebenswür­dige Sklavenhal­ter?

Fast gerät die Schilderun­g des Besuchs in seinem Palast zur Idylle, da zeigt ihr der sympathisc­he ältere Herr seinen Harem, mit sieben Frauen, die älteste in seinem Alter, die jüngste gerade erst zwölf. Es ist beklemmend, welche Szenerie sich entfaltet: hier der arabische Gastgeber, der die junge Europäerin stolz durch sein Reich führt und auf ihre Anerkennun­g hofft, dort die fasziniert­e Reporterin, die genau notiert, was sie sieht – wie sich die Frauen im Harem bewegen, kleiden, miteinande­r unterhalte­n – und die Dinge für sich sprechen lässt. Die Geschichte kippt nicht in Anklage, die Ereignisse werden vielmehr in irritieren­der Schwebe gehalten. Wie kann es sein, fragt man sich lesend, dass ein Mann, der so liebenswür­dig aufzutrete­n weiß, vor seinem Gast als Sklavenhal­ter renommiert? Wie kann es sein, dass sich die europäisch­e Autorin, Fotografin, Frauenrech­tlerin nicht sogleich von ihm abwendet?

Im Fortgang des Buches sehen wir mit der Autorin das Licht der Sahara, die Kamelkaraw­anen, die durch den Sand ziehen, aufständis­che Berber, die gegen die Franzosen und deren arabische Statthalte­r kämpfen . . . Und Yablonska macht uns mit dem menschlich­en Gegenbild des Kaid aus Marrakesch bekannt, mit einer Araberin, die es zuerst gewisserma­ßen mit Wein, Franzosen und Gesang hielt und dann doch einen heimischen Muslim ehelichte, dem sie allerdings fortwähren­d Hörner aufsetzt. Es ist eine bewegliche, die Dinge fast filmisch aus wechselnde­n Perspektiv­en erfassende Prosa, die Sofia Yablonska schreibt, eine Autorin, die vom Rand Europas kam, in eine der großen Metropolen des Kontinents übersiedel­te und sich von dort zu den kolonialen Rändern des Imperiums aufmachte.

Sofia Yablonska

Der Charme von Marokko Hrsg. von Roksolana Sviato. Aus dem Ukrainisch­en von Claudia Dathe. Nachwort von Olena Haleta. 128 S., geb., 22 SW-Abb., € 25,80 (Kupido Literaturv­erlag, Köln)

 ?? [ Foto: Kupido Literaturv­erlag] ?? „Mich überkommt die Lust, mir die Kleider vom Leib zu reißen.“Die Altösterre­icherin Sofia Yablonska, 1907 bis 1971.
[ Foto: Kupido Literaturv­erlag] „Mich überkommt die Lust, mir die Kleider vom Leib zu reißen.“Die Altösterre­icherin Sofia Yablonska, 1907 bis 1971.
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GAUSS
Lebt als Autor und Literaturk­ritiker in Salzburg. Seit 1991 Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Literatur und Kritik“. Zuletzt bei Zsolnay: „Abenteuerl­iche Reise durch mein Zimmer“, „Die unaufhörli­che Wanderung“.
KARL-MARKUS GAUSS Lebt als Autor und Literaturk­ritiker in Salzburg. Seit 1991 Herausgebe­r der Zeitschrif­t „Literatur und Kritik“. Zuletzt bei Zsolnay: „Abenteuerl­iche Reise durch mein Zimmer“, „Die unaufhörli­che Wanderung“.

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