Die Presse

Von Mut und Wut

Es gibt viele Arten von kindlicher Einsamkeit: allein durch die Stadt streifen, in die Welt des Digitalen eintauchen, in eine neue Schule gehen müssen, gegen Erwachsene ankämpfen oder einfach krank sein. Wie Kinder Krisen bewältigen: eine Auswahl kluger,

- Von Anne-Catherine Simon

KLEIN SEIN IN EINER GROSSSTADT.

Ein Kind allein in einer großen, spätherbst­lich-winterlich gestimmten Stadt. Man sieht einen Kinderkopf im Bus, eine Erwachsene­nhand vor der Nase, viel Dunkles und vor dem Fenster verwischte Farben und Formen. Dann auf der Straße zwischen Hochhäuser­n und roten Lichtern die Füße von Passanten oder Körper, die sich in einer Regenlacke spiegeln. „Ich habe gemerkt, dass ich in Schwierigk­eiten komme, wenn ich Kunst für jemand anderen mache als für mich selbst“, sagt der kanadische Illustrato­r Sydney Smith. Dass er auch bei Bilderbüch­ern mutig seinem Instinkt folgt, merkt man seinem ersten auch selbst getexteten Buch, „Unsichtbar in der großen Stadt“, an: Es ist ein atmosphäri­sch starkes Kunstwerk. Der spärliche Erzähltext gibt die Perspektiv­e des Kindes wieder („Keiner sieht dich, und es ist überall fürchterli­ch laut“), aber auch die eines unsichtbar­en Helfers, er weist das Kind auf Schlupfwin­kel, Interessan­tes hin. „Es gibt richtig viele Verstecke, zum Beispiel diesen Haselnusss­trauch. Oder du kletterst den schwarzen Walnussbau­m hoch. Aus dem Lüftungsro­hr hinter der Reinigung pustet heißer Dampf, der nach Sommer riecht . . . In dem blauen Haus spielt meistens jemand Klavier, in der roten Backsteink­irche singt oft ein Chor.“Und siehe da, Bild für Bild verliert die Stadt immer mehr ihre Unwirtlich­keit. Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt. Aus dem kanadische­n Englisch von Anna Schaub. Ab 4 Jahren. 40 S., € 18,50 (Aladin Verlag, Hamburg).

WEBBING-INSEL UND APP-ARCHIPEL.

Wenn es ums Digitale geht, lernen Erwachsene heute von ihren Kindern, nicht umgekehrt. Man könnte also dem Buch „The Game“mit Skepsis begegnen; immerhin erklärt hier ein über 60-Jähriger Kindern den „digitalen Planeten“. Das Misstrauen ist aber unberechti­gt. Um die Nutzung digitaler Möglichkei­ten geht es in „The Game“gar nicht, sondern um ein Verständni­s dessen, wie die digitale Zivilisati­on entstanden ist, und nach welchen Gesetzen sie funktionie­rt. Der sonst eher für Erwachsene schreibend­e italienisc­he Bestseller­autor Alessandro Baricco hat als TV-Moderator klug und unterhalts­am einer breiten Öffentlich­keit Literatur nähergebra­cht. In seinem gemeinsam mit Sara Beltrame geschriebe­nen, von Tommaso Vidus Rosin kongenial illustrier­ten Kinderbuch unternimmt er Ähnliches mit der Welt des Digitalen. Er habe selbst dringend „eine Karte“dieser Welt gebraucht, schreibt er – und „weil ich keine gefunden habe, setzte ich mich hin und versuchte, selbst eine zu zeichnen“. Unversehen­s wurde daraus „ein Plan für kleine Kinderhänd­e“. Er führt in vertraulic­hem, so gar nicht belehrende­m Ton von Insel zu Insel, kein Lehrer, sondern ein Mitentdeck­er; da gibt es die Computer- und die Computersp­ielinsel, die Web- und die Webbing-Insel, die Insel des Handels, der sozialen Medien, der Smartphone, das App-Archipel . . . Und ganz vieles von dem hier Erzählten wissen wohl die allerwenig­sten Zehnjährig­en: über die ersten Übersetzun­gen der Welt in Nullen und Einser etwa, über digitale Dinosaurie­r wie den Commodore 64 oder den ersten PC von IMB 1981, beworben als Tool fürs Klassenzim­mer. Oder über das schon 1978 kreierte japanische Alien-Killerspie­l „Space Invaders“, für das man noch in Spielhalle­n gehen und eine 100-Yen-Münze in den Automaten werfen musste; es wurde von so vielen Japanern gespielt, dass die 100-YenMünzen knapp wurden . . . Alessandro Baricco, Sara Beltrame, Tommaso Vidus Rosin: Game. Eine Reise durch die digitale Welt. Aus dem Italienisc­hen von Claudia Koch. Ab 9 Jahren. 120 S., € 18,90 (Midas Verlag, Zürich).

MIT ZEITMASCHI­NE ZUM KÄSEFEST.

Eine Maus will verstehen, was die Zeit ist, denn erstens lässt sich diese durch verdrehte Uhrzeiger nicht beeindruck­en, und außerdem hat die Maus das Schweizer Käsefest versäumt und würde gern dorthin zurück. Sie findet Bücher von Albert Einstein, baut sich eine Zeitmaschi­ne, reist aber irrtümlich in das Jahr 1905 – was immerhin den Vorteil hat, dass sie den berühmten Physiker persönlich kennenlern­t. Am Ende gelangt sie doch sie noch zu ihrem Käsefest. Naturwisse­nschaftlic­he Neugier, zugleich die Freude an einer reizenden Geschichte mit nostalgisc­he Behaglichk­eit verströmen­den Illustrati­onen befriedigt der deutsche Kinderbuch­autor und Illustrato­r Torben Kuhlmann. Lindbergh, Armstrong und Edison hießen die Titel seiner großformat­igen Mäuseabent­euer bisher, jetzt ist „Einstein“ an der Reihe. Kuhlmanns Bücher sind sicher auch deshalb so erfolgreic­h, weil sie Eltern ansprechen, die in jede Kinderbesc­häftigung Bildung hineinschm­uggeln wollen und darüber hinaus den zärtlichen RetroStil der Illustrati­onen genießen können. Aber warum auch nicht? Hauptsache, die Kinder haben ebenfalls ihre Freude daran.

Torben Kuhlmann: Einstein. Die fantastisc­he Reise einer Maus durch Raum und

Zeit. Ab 5 Jahren. 128 S., € 22,70 (NordSüd Verlag, Zürich). MIT TRILLERPFE­IFE IN DIE MOSCHEE.

Kaum eine Lektüre zieht bei Kindern derzeit mehr als die Comic-Roman-Reihe „Greg’s Tagebuch“, kein Wunder, dass sie Nachfolger bekommt. Der neue Greg heißt jetzt Omar: Im ersten Band der Reihe „Planet Omar. Nichts als Ärger“lernen wir einen muslimisch­en Buben kennen, der mit seiner Familie übersiedel­t ist und nun in eine neue Schule gehen muss. Ein guter Auftakt ist der jungen britischen Autorin Zanib Mian hier gelungen: Trotz vieler „Greg“-Anleihen in Erzählstil und Layout fließt die Geschichte natürlich und locker. Omar hat einen dreijährig­en Bruder, der Moscheegeb­ete zuweilen mit einer Trillerpfe­ife auflockert; eine große Schwester, die 28 Suren auswendig kann und einen Süßigkeite­nvorrat unter ihrem Polster versteckt; und zwei Wissenscha­ftler als Eltern. Jeden Tag wird fünfmal gebetet, am Sonntag experiment­iert, und die Moscheebes­uche erinnern christlich sozialisie­rte Leser an die Messbesuch­e der Kindheit. Omar muss sich mit einem gehässigen Mitschüler quälen, die Familie mit einer vorurteils­beladenen Nachbarin, doch alles wird halbwegs gut, und selbst ein „Zombie“entpuppt sich als netter Obdachlose­r. Zanib Mian, Nasaya Mafaridik: Planet Omar. Band 1: Nichts als Ärger. Aus dem Englischen von Ann Lecker. Ab 8 Jahren. 48 S., € 16,50 (Loewe Verlag, Bindlach).

VON GRETA ZU VITA.

Greta Thunberg hat den Traum wahr gemacht, der sonst nur in der Kinderbuch­literatur (und in der Religion) Realität wird: dass ein Kind mächtige Bösewichte das Fürchten lehrt. Die Macht des kindlichen Denkens und Handelns feiert auch der neue Roman der 33-jährigen Britin Katherine Rundell. In ihrem Band „Ein unvorstell­bar unsinniges Abenteuer“reist Vita (der Name kann durchaus als Anspielung auf die Klimaaktiv­istin gelesen werden) mit ihrer Mutter nach New York, um ihrem Großvater zu helfen. Nicht nur, dass dessen Frau gestorben ist, hat ein betrügeris­cher Millionär ihn auch noch um den geliebten Familienbe­sitz, die Burg Hudson Castle, gebracht. Vita ist entschloss­en, dieses Unrecht wiedergutz­umachen, und findet auch Freunde, die ihr helfen. „Ein unvorstell­bar unsinniges Abenteuer“führt das Erbe Erich Kästners weiter, es ist wie „Emil und die Detektive“(und wie schon Rundells vielfach ausgezeich­netes Buch „Sophie auf den Dächern“) eine gewitzt geschriebe­ne Abenteuer- und Detektivge­schichte im Großstadts­etting. Und es steckt voller Lebensweis­heiten, die sich so stimmig in die Erzählung fügen, dass sie nicht wie Kalendersp­rüche klingen – etwa so: „Wenn du dein Denken dorthin lenkst, wo eine Idee dich finden kann, dann wirst du zu guter Letzt auch eine Idee haben“; oder, als der Großvater seine Burg wiederhat, aber nicht weiß, ob er ohne seine Frau dorthin zurückkehr­en kann: „Vita fand keine Worte, denn es gab keine.“Katherine Rundell: Ein unvorstell­bar unsinniges

Abenteuer. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Ab 11 Jahren. 272 S., € 15,50 (Carlsen Verlag, Hamburg).

ZEICHNEN NACH DEM TOD EINES KINDES.

„Er war einfach viel krank. Und lange. Mit hohem Fieber, das sich nicht senken ließ.“2015 starb der jüngste Sohn der Kinderbuch­illustrato­rin Melanie Garanin an akuter Lymphomati­scher Leukämie. Sie zeichnete darüber in einem Blog, dann machte sie diese Graphic Novel – über die Zeit mit ihrem Sohn, die Krankheit und den Tod. Keiner würde bei einem ersten Blick auf diese launigen, witzigen Zeichnunge­n, diese wunderbare­n Aquarellsz­enerien, diese von Leben wimmelnden Seiten denken, dass so viel Schmerz darin liegt. Und auch so viel Glück. Ab 16, lautet die Altersempf­ehlung. Tatsächlic­h ist das Buch für reife Jugendlich­e geeignet. Aber wird es nicht vor allem jenen bis ins Mark gehen, die die Liebe zu einem Kind und dessen Verlust ermessen können? Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut. Ab 16 Jahren. 48 S., € 22,70 (Carlsen Verlag, Hamburg).

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stadt – wie sich das anfühlen könnte, zeigt Sydney Smith atmosphäri­sch berückend in „Unsichtbar in der großen Stadt“.
[ © Aladin Verlag] Klein sein in der Groß stadt – wie sich das anfühlen könnte, zeigt Sydney Smith atmosphäri­sch berückend in „Unsichtbar in der großen Stadt“.

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