Von Mut und Wut
Es gibt viele Arten von kindlicher Einsamkeit: allein durch die Stadt streifen, in die Welt des Digitalen eintauchen, in eine neue Schule gehen müssen, gegen Erwachsene ankämpfen oder einfach krank sein. Wie Kinder Krisen bewältigen: eine Auswahl kluger,
KLEIN SEIN IN EINER GROSSSTADT.
Ein Kind allein in einer großen, spätherbstlich-winterlich gestimmten Stadt. Man sieht einen Kinderkopf im Bus, eine Erwachsenenhand vor der Nase, viel Dunkles und vor dem Fenster verwischte Farben und Formen. Dann auf der Straße zwischen Hochhäusern und roten Lichtern die Füße von Passanten oder Körper, die sich in einer Regenlacke spiegeln. „Ich habe gemerkt, dass ich in Schwierigkeiten komme, wenn ich Kunst für jemand anderen mache als für mich selbst“, sagt der kanadische Illustrator Sydney Smith. Dass er auch bei Bilderbüchern mutig seinem Instinkt folgt, merkt man seinem ersten auch selbst getexteten Buch, „Unsichtbar in der großen Stadt“, an: Es ist ein atmosphärisch starkes Kunstwerk. Der spärliche Erzähltext gibt die Perspektive des Kindes wieder („Keiner sieht dich, und es ist überall fürchterlich laut“), aber auch die eines unsichtbaren Helfers, er weist das Kind auf Schlupfwinkel, Interessantes hin. „Es gibt richtig viele Verstecke, zum Beispiel diesen Haselnussstrauch. Oder du kletterst den schwarzen Walnussbaum hoch. Aus dem Lüftungsrohr hinter der Reinigung pustet heißer Dampf, der nach Sommer riecht . . . In dem blauen Haus spielt meistens jemand Klavier, in der roten Backsteinkirche singt oft ein Chor.“Und siehe da, Bild für Bild verliert die Stadt immer mehr ihre Unwirtlichkeit. Sydney Smith: Unsichtbar in der großen Stadt. Aus dem kanadischen Englisch von Anna Schaub. Ab 4 Jahren. 40 S., € 18,50 (Aladin Verlag, Hamburg).
WEBBING-INSEL UND APP-ARCHIPEL.
Wenn es ums Digitale geht, lernen Erwachsene heute von ihren Kindern, nicht umgekehrt. Man könnte also dem Buch „The Game“mit Skepsis begegnen; immerhin erklärt hier ein über 60-Jähriger Kindern den „digitalen Planeten“. Das Misstrauen ist aber unberechtigt. Um die Nutzung digitaler Möglichkeiten geht es in „The Game“gar nicht, sondern um ein Verständnis dessen, wie die digitale Zivilisation entstanden ist, und nach welchen Gesetzen sie funktioniert. Der sonst eher für Erwachsene schreibende italienische Bestsellerautor Alessandro Baricco hat als TV-Moderator klug und unterhaltsam einer breiten Öffentlichkeit Literatur nähergebracht. In seinem gemeinsam mit Sara Beltrame geschriebenen, von Tommaso Vidus Rosin kongenial illustrierten Kinderbuch unternimmt er Ähnliches mit der Welt des Digitalen. Er habe selbst dringend „eine Karte“dieser Welt gebraucht, schreibt er – und „weil ich keine gefunden habe, setzte ich mich hin und versuchte, selbst eine zu zeichnen“. Unversehens wurde daraus „ein Plan für kleine Kinderhände“. Er führt in vertraulichem, so gar nicht belehrendem Ton von Insel zu Insel, kein Lehrer, sondern ein Mitentdecker; da gibt es die Computer- und die Computerspielinsel, die Web- und die Webbing-Insel, die Insel des Handels, der sozialen Medien, der Smartphone, das App-Archipel . . . Und ganz vieles von dem hier Erzählten wissen wohl die allerwenigsten Zehnjährigen: über die ersten Übersetzungen der Welt in Nullen und Einser etwa, über digitale Dinosaurier wie den Commodore 64 oder den ersten PC von IMB 1981, beworben als Tool fürs Klassenzimmer. Oder über das schon 1978 kreierte japanische Alien-Killerspiel „Space Invaders“, für das man noch in Spielhallen gehen und eine 100-Yen-Münze in den Automaten werfen musste; es wurde von so vielen Japanern gespielt, dass die 100-YenMünzen knapp wurden . . . Alessandro Baricco, Sara Beltrame, Tommaso Vidus Rosin: Game. Eine Reise durch die digitale Welt. Aus dem Italienischen von Claudia Koch. Ab 9 Jahren. 120 S., € 18,90 (Midas Verlag, Zürich).
MIT ZEITMASCHINE ZUM KÄSEFEST.
Eine Maus will verstehen, was die Zeit ist, denn erstens lässt sich diese durch verdrehte Uhrzeiger nicht beeindrucken, und außerdem hat die Maus das Schweizer Käsefest versäumt und würde gern dorthin zurück. Sie findet Bücher von Albert Einstein, baut sich eine Zeitmaschine, reist aber irrtümlich in das Jahr 1905 – was immerhin den Vorteil hat, dass sie den berühmten Physiker persönlich kennenlernt. Am Ende gelangt sie doch sie noch zu ihrem Käsefest. Naturwissenschaftliche Neugier, zugleich die Freude an einer reizenden Geschichte mit nostalgische Behaglichkeit verströmenden Illustrationen befriedigt der deutsche Kinderbuchautor und Illustrator Torben Kuhlmann. Lindbergh, Armstrong und Edison hießen die Titel seiner großformatigen Mäuseabenteuer bisher, jetzt ist „Einstein“ an der Reihe. Kuhlmanns Bücher sind sicher auch deshalb so erfolgreich, weil sie Eltern ansprechen, die in jede Kinderbeschäftigung Bildung hineinschmuggeln wollen und darüber hinaus den zärtlichen RetroStil der Illustrationen genießen können. Aber warum auch nicht? Hauptsache, die Kinder haben ebenfalls ihre Freude daran.
Torben Kuhlmann: Einstein. Die fantastische Reise einer Maus durch Raum und
Zeit. Ab 5 Jahren. 128 S., € 22,70 (NordSüd Verlag, Zürich). MIT TRILLERPFEIFE IN DIE MOSCHEE.
Kaum eine Lektüre zieht bei Kindern derzeit mehr als die Comic-Roman-Reihe „Greg’s Tagebuch“, kein Wunder, dass sie Nachfolger bekommt. Der neue Greg heißt jetzt Omar: Im ersten Band der Reihe „Planet Omar. Nichts als Ärger“lernen wir einen muslimischen Buben kennen, der mit seiner Familie übersiedelt ist und nun in eine neue Schule gehen muss. Ein guter Auftakt ist der jungen britischen Autorin Zanib Mian hier gelungen: Trotz vieler „Greg“-Anleihen in Erzählstil und Layout fließt die Geschichte natürlich und locker. Omar hat einen dreijährigen Bruder, der Moscheegebete zuweilen mit einer Trillerpfeife auflockert; eine große Schwester, die 28 Suren auswendig kann und einen Süßigkeitenvorrat unter ihrem Polster versteckt; und zwei Wissenschaftler als Eltern. Jeden Tag wird fünfmal gebetet, am Sonntag experimentiert, und die Moscheebesuche erinnern christlich sozialisierte Leser an die Messbesuche der Kindheit. Omar muss sich mit einem gehässigen Mitschüler quälen, die Familie mit einer vorurteilsbeladenen Nachbarin, doch alles wird halbwegs gut, und selbst ein „Zombie“entpuppt sich als netter Obdachloser. Zanib Mian, Nasaya Mafaridik: Planet Omar. Band 1: Nichts als Ärger. Aus dem Englischen von Ann Lecker. Ab 8 Jahren. 48 S., € 16,50 (Loewe Verlag, Bindlach).
VON GRETA ZU VITA.
Greta Thunberg hat den Traum wahr gemacht, der sonst nur in der Kinderbuchliteratur (und in der Religion) Realität wird: dass ein Kind mächtige Bösewichte das Fürchten lehrt. Die Macht des kindlichen Denkens und Handelns feiert auch der neue Roman der 33-jährigen Britin Katherine Rundell. In ihrem Band „Ein unvorstellbar unsinniges Abenteuer“reist Vita (der Name kann durchaus als Anspielung auf die Klimaaktivistin gelesen werden) mit ihrer Mutter nach New York, um ihrem Großvater zu helfen. Nicht nur, dass dessen Frau gestorben ist, hat ein betrügerischer Millionär ihn auch noch um den geliebten Familienbesitz, die Burg Hudson Castle, gebracht. Vita ist entschlossen, dieses Unrecht wiedergutzumachen, und findet auch Freunde, die ihr helfen. „Ein unvorstellbar unsinniges Abenteuer“führt das Erbe Erich Kästners weiter, es ist wie „Emil und die Detektive“(und wie schon Rundells vielfach ausgezeichnetes Buch „Sophie auf den Dächern“) eine gewitzt geschriebene Abenteuer- und Detektivgeschichte im Großstadtsetting. Und es steckt voller Lebensweisheiten, die sich so stimmig in die Erzählung fügen, dass sie nicht wie Kalendersprüche klingen – etwa so: „Wenn du dein Denken dorthin lenkst, wo eine Idee dich finden kann, dann wirst du zu guter Letzt auch eine Idee haben“; oder, als der Großvater seine Burg wiederhat, aber nicht weiß, ob er ohne seine Frau dorthin zurückkehren kann: „Vita fand keine Worte, denn es gab keine.“Katherine Rundell: Ein unvorstellbar unsinniges
Abenteuer. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Ab 11 Jahren. 272 S., € 15,50 (Carlsen Verlag, Hamburg).
ZEICHNEN NACH DEM TOD EINES KINDES.
„Er war einfach viel krank. Und lange. Mit hohem Fieber, das sich nicht senken ließ.“2015 starb der jüngste Sohn der Kinderbuchillustratorin Melanie Garanin an akuter Lymphomatischer Leukämie. Sie zeichnete darüber in einem Blog, dann machte sie diese Graphic Novel – über die Zeit mit ihrem Sohn, die Krankheit und den Tod. Keiner würde bei einem ersten Blick auf diese launigen, witzigen Zeichnungen, diese wunderbaren Aquarellszenerien, diese von Leben wimmelnden Seiten denken, dass so viel Schmerz darin liegt. Und auch so viel Glück. Ab 16, lautet die Altersempfehlung. Tatsächlich ist das Buch für reife Jugendliche geeignet. Aber wird es nicht vor allem jenen bis ins Mark gehen, die die Liebe zu einem Kind und dessen Verlust ermessen können? Melanie Garanin: Nils. Von Tod und Wut. Und von Mut. Ab 16 Jahren. 48 S., € 22,70 (Carlsen Verlag, Hamburg).