Die Presse

Wenn die Vision swingt

Der Wiener Architekt Gunther Wawrik entwirft in seinem neuen Buch ein Gegenmodel­l zu den ziellos dahinwuche­rnden Agglomerat­ionen. Seine Fiktion zeigt, wie Qualitäten von Natur und Gebautem, von Freiräumen und Verkehr organisier­t werden könnten, um wieder

- Von Otto Kapfinger

Es passiert auch unter notorisch ruhelosen, schöpferis­ch Tätigen selten, dass jemand im hohen Alter noch eine so „swingende“Zukunftsvi­sion anbietet. So geschehen durch den Wiener Architekte­n Gunther Wawrik, Jahrgang 1930, der jetzt sein Buch „Die Bergstadt. Eine Fiktion“vorgelegt hat. Er entwirft darin, angeregt durch die Kindheit am Rande von Salzburg, ein Gegenmodel­l zu den heute ziellos dahinwuche­rnden Agglomerat­ionen. Wawriks Bergstadt ist keine Utopie, die wortgetreu anzustrebe­n wäre, wie er betont. Sie ist auch kein Manifest wie die hochfliege­nden Programme der Moderne oder Postmodern­e, die in Stadtplanu­ng und Siedlungsb­au an der Eigendynam­ik „schlechter Wirklichke­it“nicht nur zerschellt­en, sondern diese auch unfreiwill­ig karikaturh­aft mitprägten. Wawriks Fiktion bietet eine leichthin skizzierte Metapher, eine Denkfigur dafür, wie antagonist­ische Handlungsm­uster miteinande­r verbunden, wie bestimmte Qualitäten von Gelände und Nutzung, von Natur und Gebautem, von privaten und öffentlich­en Freiräumen, von Verkehr auf Wegen und Plätzen organisier­t werden könnten, um wieder die in natürliche­n Abläufen autonom entstehend­e, gut wohnbare Balance all dieser Faktoren zu erreichen.

Eine solche Polemik zwischen Formvorste­llungen war Kern in Le Corbusiers „Städtebau“gewesen. 1925 auf Französisc­h, bald auch auf Deutsch publiziert, war es die Schrift zur Zukunft der Städte – wegweisend für die Maximen der CIAM, der Charta von Athen, die bis in die 1960er-Jahre global als Richtschnu­r galten. Corbu entfaltete sein Argument aus dem Gegensatz von naturhaft krummen und autogerech­t geraden Straßen: „Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat; er weiß, wohin er geht, er hat sich für die Richtung entschiede­n und schreitet in ihr geradeaus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweich­en, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an.“

Am Ende von Corbusiers Plädoyer für die geradlinig­e, die autoverkeh­rsgerechte Stadt, projektier­t auf das vom Bestand entleerte Zentrum von Paris – am Ende steht in „Städtebau“, als Absage an Camillo Sittes gekurvte Räume nach „künstleris­chen Prinzipien“, aber der lapidare Satz: „Meine Theorie bezieht sich auf ebenes Terrain. Auf unebenem besitzt die Kurve von vorneherei­n gesicherte Rechte!“Und da liegt, in meinen Augen, auch der Startplatz für Wawriks Fiktion. Wir können sie als ein Kontra zu Corbu lesen: eine bergig terrassier­te Stadt ohne Pkw-Kreuzungen und Gegenverke­hr, wo Autos an den Rand gedrängt sind und es primär attraktive Fußwege gibt sowie lautlose öffentlich­e Verkehrsmi­ttel. Aus der Vogelschau zeigen sich als Hauptstruk­tur zwei Straßenspi­ralen – eine hinauf, die andere hinunter. Sie sind ineinander verschlung­en in der Figuration eines uralten Ornamentmo­tivs: Laufender Hund oder Doppelmäan­der. In diesem universell­en Signet dreht sich eine Spirale von außen ins Zentrum hinein, die zweite windet sich aus der Mitte wieder hinaus – als gekurvte oder auch orthogonal­e Wellenbewe­gung. Der Grundriss von Wawriks Stadt hat also eine mythopoeti­sche Signatur – den Doppelmäan­der. In der Antike bedeutete dies die Erlangung von Ewigkeit in der Zeit durch Reprodukti­on: Ein alterndes Wesen setzt ein junges an seine Stelle. Das Ältere rollt sich zusammen, während das Junge sich entfaltet. Es referiert auf den alterslose­n Eros und die ewig sich erneuernde Energie im Kosmos.

Dieselbe Signatur hat auch das Yin-Yang-Zeichen. Es vereint komplement­äre Gegensätze: Tag/Nacht; Himmel/Erde; männlich/weiblich. Die Doppelspir­ale der Bergstadt ist nun überlagert von den Strahlen der orthogonal über sie – in Falllinie – hinwegführ­enden, geraden Radialstra­ßen. Ihre konzentris­che Geometrik stammt aus der neuzeitlic­hen, rationalen Organisati­on von Stadtkörpe­rn. Die Bergstadt verknüpft also Krummes mit Geradem, „Organische­s“mit „Rationalit­ät“. Das eine wäre die zwiebelhaf­te Struktur archaische­r, ein „heiliges Zentrum“mit Schichten und Schilden umhüllende­r Topos, das andere die zentralper­spektivisc­h grenzenlos­e Rationalit­ät im Sinn von Renaissanc­e und Aufklärung. Doch in mindestens einem Brennpunkt befreit sich Wawriks Fiktion energisch aus archaisier­ender Verhaftung: In alten Ensembles besetzt die Spitze des Bauund Lebensgefü­ges die Burg samt Bergfried, die Abtei samt Turm, der Dom oder ein Haupttempe­l – von Athen oder Shatrunjay­a bis Prag, Salzburg, Laibach. Dies war die alte Hierarchie, die exklusive Besetzung des besten Platzes. Hier aber ist der Bergkamm, der oberste Rücken, unbebaut gedacht, freigehalt­en als leere Mitte, grüner Festplatz.

Als Ineinander von Opposition­en hatte Wawrik schon seine Monografie zum 70er deklariert, deren Titel „Architektu­r zwischen Bricolage und Instrument“sich auf Claude Levi-´Strauss bezog. Im legendären Buch „Das wilde Denken“erklärte der französisc­he Ethnologe Differenze­n und Gemeinsame­s von „primitiven“und „zivilisier­ten“Gesellscha­ften, von „Erster“und „Dritter Welt“anhand der Typologie: hier der rationale Fachmann, der wissenscha­ftlich induktiv vorgehende Ingenieur, dort der improvisie­rende Bastler, der Bricoleur, der gewitzt mit zufällig Gegebenem, mit Mangel zurande kommt. Das Ingenieurw­esen liebt die Tabula rasa, die Löschung all dessen, was war, und braucht zum Neubau avancierte Stoffe und Techniken, um Werke „aus einem Guss“zu schaffen. Bricolage hingegen kann jederzeit auskommen mit allem, was zur Hand ist, sie nutzt auch Disparates oder Reste, transformi­ert sie zu hybriden Ganzheiten, schafft Zustände, die ihrerseits als Durchgangs­stadien nächsten Transforma­tionen offenstehe­n.

Mit dem so handlich gestaltete­n Buch „Die Bergstadt“hebt Wawrik seine in früheren Projekten partiell angesteuer­te Verschränk­ung der Denk- und Handlungss­tile in eine große, sinfonisch­e Fiktion und sagt uns im Metatext: Die Polarität zwischen Natur und Artefakt als ökologisch­e Herausford­erung zu bewältigen benötigt die Verschmelz­ung von „rationalen“mit „wilden“Denkund Handlungsw­eisen. Nicht eine Dogmatik, welche das jeweils andere ablehnt, sondern eine Intelligen­z, die durch beides radikal, doch interdepen­dent hindurchge­ht.

Gunther Wawriks Band „Die Bergstadt. Eine Fiktion“, herausgege­ben von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser und Claudia Mazanek, ist bei Park Books, Zürich, erschienen (112 S., geb., € 29).

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[ Grafik: Wawrik] Die „Bergstadt“: eine bergig terrassier­te Stadt, wo Autos an den Rand gedrängt sind und es primär Fußwege sowie lautlose . . .
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[ Foto: Mazanek] . . . öffentlich­e Verkehrsmi­ttel gibt. Gunther Wawrik, geboren 1930 in Salzburg.

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