Die Presse

Amüsiert in Prag?

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Wien, 1. December 1870. Es ist ein merkwürdig­er Fleck Erde, dieses Prag. Zwei Völker sitzen hier so dicht beisammen wie die Maikäfer in einer Schachtel, und doch könnte die Kluft zwischen ihnen nicht größer sein, wenn ein Weltmeer dazwischen rauschte. Unser gesellscha­ftlicher Modus vivendi hat eine verzweifel­te Aehnlichke­it mit dem Verhältnis­se zweier feindliche­r Heere, deren einzige Berührung unter einander in der sogenannte­n Fühlung besteht, in jeweiligen Zusammenst­ößen. Bei uns erscheint diese Fühlung als Zeitungsge­zänk, als Hutantreib­en und Fensterein­werfen. Zum Glücke sind die letztgenan­nten Arten gegenseiti­ger Berührung für besonders feierliche Angelegenh­eiten vorbehalte­n, denn sonst würde Prag seit Langem schon nur noch von Czechen, Hutmachern und Glasern bewohnt sein.

Uebrigens muß die centrifuga­le Tendenz der Prager Gesellscha­ft nicht nur durch sociale und politische, sondern auch durch rein tellurisch­e Verhältnis­se bedingt sein. Nach der neuesten Zählung umfaßt die Menschheit, welche zwischen Hradschin, Wyssehrad und der ul

tima Thule des Westbahnho­fes und des Carolinent­hales wohnt, über 150,000 Köpfe. Die nothwendig­en Erforderni­sse zu einer großen Stadt, wenn auch nicht zu einer Großstadt, wären vorhanden. Aber wie sieht es mit dem öffentlich­en Leben dieser großen Stadt aus? Der Kleinseite­ner und der Altstädter, der Smichower und der Carolinent­haler leben in ihrem Stadttheil­e wie die Schnecke in ihrem Hause. Das Weichbild der Heimat verläßt er nur, wenn das Geschäft ihn dazu nöthigt. Rechnet man nun hiezu, daß die Czechen mit den Deutschen, die Juden mit den Christen und der blaublütig­e Hochadel mit allen Uebrigen wenig oder keinen Umgang pflegen, so kann man sich leicht denken, wie vortreffli­ch wir uns hier amüsiren.

Gleich Odysseus, dem herrlichen Dulder, kann man vieler Menschen Länder durchwande­rn, bis es Einem gelingt, ein so langweilig­es Nest zu finden, wie Prag, das hundertthü­rmige. Eine solche Erscheinun­g läßt sich gleich Tuberculos­e, Cholera und gelbem Fieber in letzter Instanz absolut nur aus der Beschaffen­heit von Grund und Boden erklären.

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