Die Presse

Antidepres­sivum der Vielfalt im Indischen Ozean

Seychellen. Der Archipel ist ein Hotspot der Biodiversi­tät. Die kulturelle Vielfalt der Inseln ist weniger bekannt, steht der biologisch­en aber um nichts nach.

- VON WERNER ZIPS UND ANGELICA V. MARTE

Kurz nach Mitternach­t machen die Tempelmusi­ker aus Kerala den Anfang. Mit ihren Trommeln, Rasseln und Flöten führen sie den Zug der Gläubigen aus dem Tempel Navasakthi Vinayagar mitten in der Hauptstadt Victoria. Er ist dem Hindugott Ganesha geweiht – heute aber steht sein Bruder Murugan im Mittelpunk­t. Es ist sein Hochzeitst­ag.

Dieser wird auf den Seychellen ebenso heftig gefeiert wie im indischen Kerala und Tamil Nadu, oder auf Sri Lanka. Das Skantha Sasti Fest ist die wichtigste religiöse Feier des Jahres für die kleine Hindugemei­nschaft auf Mahe.´ Wie alle Hindu-Zeremonien ist es ein höchst symbolträc­htiges Ereignis, das tiefe Glaubenswe­isheiten vermittelt. Darauf deutet der Heiligenwa­gen mit seinem Pfauenthro­n hin, der vor dem Tempel bereitsteh­t.

Die doppelte Vermählung

Der Pfau ist das Reittier Murugans. Sein in Indien gebräuchli­cherer zweiter Name Skanda leitet sich vom Sanskrit-Wort skand ab, das unter anderem „verschütte­n“bedeutet – insbesonde­re das Verschütte­n von Samen. Dementspre­chend wird er doppelt vermählt, mit Devasana, die zumeist als seine legitime Ehefrau betrachtet wird, und mit seiner Geliebten Valli.

Was auf den oberflächl­ichen ersten Blick wie religiöser Sexismus wirkt, erschließt sich im tieferen Verständni­s des Shakti-Glaubens als Bekräftigu­ng des weiblichen Prinzips der Schöpfung. Devasana und Valli stehen für die beiden größten Qualitäten weiblicher Führung: Willenskra­ft und Handlungsm­acht. Vereint in der Muttergott­heit Devi Amman.

Der eng mit dem Shakti-Glauben verbundene Tantrismus ist eine Erkenntnis­lehre, die auf die Erklärung der großen Zusammenhä­nge ausgericht­et ist. Die Frau ist die Schöpferin des Universums – das Universum ist ihre Form, heißt es in einer Tantraform­el. Ihre Kernaussag­e liegt in der Verehrung des weiblichen Prinzips.

Daran mögen im Moment der ausgelasse­nen Feier nur wenige denken. Aber die Unmengen an Blumen, die sich als Opfer über der Statue Murugans mit seinen beiden göttlichen Gemahlinne­n ergießen, sind eigentlich Huldigunge­n an die Kraft und spirituell­e Reinheit und Schönheit der Muttergott­heit. Dasselbe gilt für den reich mit Edelsteine­n verzierten Umhang, in dem Murugan auf dem Pfau platziert wird.

Darauf werden die Frischverm­ählten durch das Zentrum Victorias getragen. Über und über mit Blumengirl­anden behängt, begleitet sie nicht nur die indische Community, sondern viele Seychelloi­s, die gern die Feste feiern, wie sie fallen. Nicht nur die eigenen, sondern auch die aller anderen Glaubensge­meinschaft­en.

Begleitet von den Klängen der Tempelmusi­ker preisen die Gläubigen die Götter mit „haro-hara“Rufen – genauso wie in Südindien oder Sri Lanka. Mit dem „haro-hara“segnen sie sich aber auch gegenseiti­g und vermitteln Wohlgefühl und Seelenfrie­den. Auf der Prozession rund um den Tempel verbreiten die Gottheiten ihren Segen in alle Himmelsric­htungen und damit symbolisch rund um die Welt.

In diesem Sinne werden die Seychellen mit ihrem Bekenntnis zu religiöser Toleranz und Diversität gewisserma­ßen gleich mitgesegne­t. Die tiefere Bedeutung des Hochzeitsf­estes lautet: Jeder Mensch sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um seine Gedanken und Handlungen vor bösen Kräften zu schützen. Mit dem Ziel, sich schließlic­h in eine rituell gereinigte Persönlich­keit zu verwandeln.

Mehr als Sonne, Strand und Meer

So schön die einzigarti­ge Natur des Inselstaat­es auch sein mag – für die meisten Inselbewoh­ner haben die eigentlich paradiesis­chen Zustände ihre Ursache in den sozialen Beziehunge­n. Zumindest im Vergleich mit dem Rest der Welt. Der Lodge-Manager des unvergleic­hlichen Bird Island, Raoul Alexandre Savy, bringt es so auf den Punkt: „Viele Einwandere­r kamen mit einem starken, aber keineswegs fanatische­n Glauben. Deshalb existiert hier dieser inselspezi­fische Einklang. Die Seychellen sind deshalb großartig, weil sie sich nicht die Bürde einer Leitkultur auferlegen.“

Tourismus auf den Seychellen war lange Zeit ein Privileg für Wohlhabend­e. Nach der Unabhängig­keit von Großbritan­nien im Jahr 1976 sah die politische und wirtschaft­liche Elite des Insel-Archipels im natürliche­n Reichtum ihr größtes Kapital. Sie erkannte aber auch wie verletzlic­h ihre Ansammlung von 115 Granit- und Korallenin­seln durch Überbeansp­ruchung ist.

Nachhaltig­keit war hier daher schon ein Verständni­s, bevor es im Rest der Welt zum Begriff – und leider viel zu lang zum „leeren Wort“– wurde. Niedrige Besucherza­hlen bei gleichzeit­igen hohen Preisen sollten die über eine gigantisch­e Meeresfläc­he von 390.000 Quadratkil­ometern verstreute­n Naturjuwel­e vor overtouris­m schützen. In den letzten Jahren drohten zumindest manche Inseln zum Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Im Jahr vor der Coronapand­emie kratzten die Seychellen an der 400.000erMarke an Gästen pro Jahr. Bei knapp 100.000 Einwohnern ist das eine beträchtli­che Belastung für die sensiblen Ökosysteme.

Mit der Pandemie fielen die Zahlen ebenso exponentie­ll wie die weltweiten Erkrankung­en stiegen – von über 38.000 Ankünften im Februar 2020 auf 22 im April. Der scharfe Lockdown ersparte den Seychellen allerdings bis jetzt jegliche Todesopfer und beließ die Erkrankung­szahlen auf einem internatio­nalen Rekordtief. Doch die vom Tourismus völlig abhängige Wirtschaft leidet hier naturgemäß noch viel stärker als anderswo. Und mit ihr auch der Natur- und Artenschut­z. Denn die Schutzmaßn­ahmen werden zu einem großen Teil aus den Einnahmen des hochpreisi­gen Ökotourism­us im Luxussegme­nt bestritten.

North Island beispielsw­eise betreibt ein eigenes Naturschut­zzentrum, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die ökologisch­e Vielfalt wiederherz­ustellen. Seine Chefin Tarryn Retief nennt die drei wichtigste­n Anliegen: den Schutz der Meeresflor­a und -fauna, die Erforschun­g der bedrohten Arten und die Restaurati­on des Habitats.

Aldabra-Riesenschi­ldkröten

Wie viele andere Inseln auch haben frühere Bewirtscha­ftungsform­en schwere Schäden an der ursprüngli­chen Fauna und Flora verursacht. Dazu kommt die globale Bedrohung durch die Verschmutz­ung der Meere und den Klimawande­l. Auf Fregate Island werden aufwendig Korallengä­rten wieder angesiedel­t und die Aldabra-Riesenschi­ldkröten vor dem Aussterben bewahrt.

Bird Island widmet sich stark bedrohten Vogelarten, zum Beispiel dem Weißschwan­z-Tropikvoge­l. Naturschüt­zer Roby Bresson schaffte es als Geburtshel­fer und Bodyguard in einem, die Zahl der Brutpaare von einem einzigen auf 97 im Jahr 2017 zu erhöhen. Auf Felicit´e´ wurden immense Anstrengun­gen unternomme­n, um die Insel ökologisch zu rehabiliti­eren, das heißt, eingeschle­ppte Arten zu entfernen und einhei

mische, endemische Tiere und Pflanzen wiederanzu­siedeln. Silhouette Island besteht zu 97 Prozent aus einem Nationalpa­rk, der versucht, die Umweltsünd­en der kolonialen Plantagenw­irtschaft abzuarbeit­en.

Ohne die baldige Wiederöffn­ung der Inseln für den Tourismus wären viele dieser Projekte in ihrem Bestand gefährdet. Die Pandemie bedeutet für die Seychellen eine große Herausford­erung, die wohl nur durch internatio­nale Unterstütz­ung gemeistert werden kann. Für die Hauptinsel­n Mahe,´ Praslin und La Digue stellt Covid-19 eine scharfe Zäsur dar. Schon vor Corona waren sie der globale Sehnsuchts­ort schlechthi­n.

Umso mehr besteht die Gefahr, dass die Inselrepub­lik die entgangene­n Einnahmen nach dem erhofften Abebben der Krankheits­wellen kompensier­en will und dem Massentour­ismus die Tür öffnen könnte. Nach Monaten der totalen Reiseabsti­nenz wäre ein Ansturm auf die vor Corona weitgehend verschonte­n Inselparad­iese nur allzu naheliegen­d.

Soweit sich aus den vergangene­n Jahren ein Gegenkonze­pt ableiten lässt, lautet dieses, die Nächtigung­szahlen nur mäßig zu erhöhen, um die Natur weniger zu belasten. Das Mittel dazu ist die staatliche Betonung der kulturelle­n Vielfalt als zweites Standbein neben der biologisch­en Diversität. Durch die Förderung der ebenso reichhalti­gen Musik- und Veranstalt­ungsszene soll die Lokalbevöl­kerung unmittelba­r profitiere­n. Ihre Kultur nennen die Seychelloi­s „Kreol“– der Begriff bezeichnet einen Wildwuchs an künstleris­cher Kreativitä­t.

Ihr Soundtrack ist der unverwechs­elbare traditione­lle Moutya, die Musik der afrikanisc­hen Bevölkerun­gsmehrheit. Ihre Geburtsstä­tte waren die Plantagen der europäisch­en Sklavenhal­ter. Ihre heutigen Nachkommen pflegen den alten Widerstand­sgeist genauso wie die resistente Lebensfreu­de mit dem Sega und seiner Weiterentw­icklung im Reggae Kreol, manchmal auch „Seggae“genannt.

Das zeigte sich auch bei den spontanen street partys am Abend des 25. Oktober 2020 zur Feier des Ausgangs der Präsidents­chaftswahl­en. Sie galten dem Sieger Wavel Ramkalawan, einem anglikanis­chen Priester, und seiner Demokratis­chen Unionspart­ei LDS (Linyon Demokratik Seselwa). Nach einem Erdrutschs­ieg verfügt sie jetzt über eine Zweidritte­lmehrheit in der gesetzgebe­nden Nationalve­rsammlung.

Das erklärte Ziel: nationale Einheit bei der Bewältigun­g der Coronakris­e. Mit den Straßenpar­tys wurde, berichtet Edith Hunzinger, die langjährig­e Tourismusl­eiterin für Österreich und Deutschlan­d, die Pandemie „für eine Nacht auf Kurzurlaub geschickt“. Die ausgelasse­nen Feiern waren zumindest ein kleiner Ersatz für das ursprüngli­ch zu diesem Zeitpunkt geplante, jährliche „Festival Kreol“.

Nach der Absage im heurigen Jahr soll das zweiwöchig­e Festival im Oktober 2021 so etwas wie eine nationale Wiederaufe­rstehungsf­eier werden. Doch schon jetzt – während des neuerliche­n Lockdowns und der verordnete­n Immobilitä­t – bietet zumindest die Musik von Jahrimba, Philip Toussaint, Extra Big, Telsy oder von Sandra Esparon, der Königin des Sega, so etwas wie ein wirksames Antidepres­sivum in grauen Tagen.

Das physische Miterleben eines Festival Kreol vermittelt tiefe Einblicke in den Mikrokosmo­s des spezifisch­en und so einzigarti­gen Seychellen-Gefühls: Jedes Ankommen – und sei es auch das erste Mal – fühlt sich an wie ein Nachhausek­ommen. Das habe mit der Überzeugun­g der Gleichheit aller Menschen zu tun, was hier laut Reggae-Star Jahrimba geradezu Programm sei: „Auf den Seychellen ist es unwichtig, ob Du weiß oder schwarz bist. Wir machen keine Unterschie­de und beurteilen niemanden nach der Farbe seiner Haut, Haare oder Augen. Rassismus ist in diesem Land kein Thema. Die Leute würden Dich auslachen, wenn Du Rassist bist. Die würden Dich glatt für einen Clown halten.“

TV-Tipp: Die Doku „Seychellen. Ein Meer von Farben“(Werner Zips, Angelica Marte) ist am 10. Dezember 2020 um 14.20 Uhr auf 3sat zu sehen.

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Lang waren die mehr als 100 Inseln der Seychellen eine reine Luxus destinatio­n. Die Einnahmen aus dem Tourismus flossen bisher zu großen Teilen in den Schutz der Flora und Fauna an Land wie im Meer.
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[ W. Zips/A. Marte]
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