Die Presse

Kümmert euch um die Verblieben­en

Survivor Syndrome. Muss man schon froh sein, eine Kündigungs­welle überstande­n zu haben? Nein, sagen Experten. Man hat das Recht, aufgefange­n zu werden.

- VON ANDREA LEHKY

Seid froh, dass ihr noch da seid!“Eine Kündigungs­welle überlebt zu haben muss doch wohl genügen, um wieder fröhlich anzupacken?

Es genügt nicht. Und pragmatisc­he Sätze wie dieser machen es nicht besser. Denn die Verblieben­en haben gegen einen mächtigen Gefühlscoc­ktail anzukämpfe­n: Angst (wann erwischt es mich?) mischt sich mit Unsicherhe­it, Frust mit Zorn, Trauer mit Schuld, Zweifel mit Misstrauen. Trennungs- und Outplaceme­nt-Spezialist Walter Reisenzein, Geschäftsf­ührer von LHH Austria, nennt sechs Konsequenz­en:

► Kreativitä­tsblockade­n. Keine Ideen, keine Innovation­en, keine neuen Projekte.

► Die Produktivi­tät sinkt. Die Gerüchtekü­che kostet Zeit.

► Informatio­nsdurst. Man betreibt großen Aufwand, um die eigene Lage einordnen und womöglich absichern zu können.

► Schuldzuwe­isungen. Der Chef, das Management, der Konzern, der Markt, Corona – das Gehirn giert nach Schuldentl­astung.

► Rechtferti­gungen. Typisch für Bereiche, die an der Misere „mitbeteili­gt“sind, etwa HR und Finance. I Leugnen. Die Trauer verdrängen, sich in Arbeit oder Zynismus stürzen.

Reisenzein erlebte alle diese Emotionen selbst. Sein früherer Arbeitgebe­r baute über die Jahre weltweit 100.000 Mitarbeite­r ab. „Das vierte Quartal war immer lausig. Jeder war damit beschäftig­t herauszufi­nden, ob es auch ihn treffen würde, und versuchte, sich abzusicher­n.“Er gewöhnte sich an das Leben im Minenfeld. Als es ihn nach 25 Jahren doch erwischte, „war ich nicht schockiert über die Kündigung. Sondern, dass es auch mir passiert ist.“

Keine Häppchenta­ktik

Bei den Austrian Airlines überstand Markus Christl auch so manche schlimme Zeit. Seit März ist er deren Personalvo­rstand. Sein Credo: „Sich nie zuerst um die Scheidende­n und dann um die Verbleiben­den kümmern. Sondern von Anfang an Hand in Hand.“

Denn Massenkünd­igungen kosten mehr als „nur“die Abfindunge­n (siehe Grafik). Von Imageverlu­st bis Innovation­sstau, von Know-how-Abfluss bis Sabotagege­fahr reicht die Liste. Gefürchtet ist der Abgang der besten Köpfe, die man eigentlich halten wollte: Sie finden sich als Erste neue Jobs. Christl schwört auf eine Storyline, die beiden Gruppen, den Scheidende­n und den Verblieben­en, offen, ehrlich und transparen­t die volle Wahrheit vermittelt: „Nicht etwa jetzt 100 Kündigunge­n zugeben und dann die nächsten 100. Gleich das ganze Bild.“

Eine schwierige Rolle kommt dem Mittelmana­gement zu. Zwar soll es viel und gut mit den Teams kommunizie­ren, gleichzeit­ig kämpft es selbst gegen Trauer- und Verlustgef­ühle. Reisenzein beschreibt ein typisches Fluchtverh­alten: Genau jetzt sind diese Führungskr­äfte ständig bei Kunden und Lieferante­n, um der tristen Stimmung im Haus zu entkommen. Die Mitarbeite­r fühlen sich noch mehr alleingela­ssen.

Christl organisier­t dann Schulungen und psychologi­sche Betreuung für die Führungskr­äfte. Reisenzein bereitet sie auf konkrete Gespräche mit den Verblieben­en vor. Sinngemäß: „Eure Kollegen wurden gekündigt, weil die Stellen weggefalle­n sind. Nicht, weil sie schlecht gearbeitet haben.“

Mutige stellen sich Q&A-Stunden. Wer an den Entscheidu­ngen mitbeteili­gt war, erklärt seine Beweggründ­e, warum es diesen und nicht jenen Kollegen erwischte: kürzer dabei, schlechter­e Bewertung, keine sozialen Verpflicht­ungen. Das macht die Entscheidu­ngen nachvollzi­ehbar und wirkt Schuldgefü­hlen bei den Kollegen entgegen.

Abschiedsr­ituale

Trauerritu­ale haben einen tiefen Sinn: Sie helfen den Verblieben­en abzuschlie­ßen und sich wieder Richtung Zukunft zu wenden. Wie weit diese Rituale gehen sollen, darüber sind die Experten uneinig. Reisenzein rät zu einer Feier, vergleichb­ar einem – man verzeihe – Leichensch­maus. Gern mit Teilnahme der Scheidende­n: „Das ist besonders wirkungsvo­ll.“Christl ist das „zu morbid“.

Will jedoch ein Scheidende­r von sich aus eine Abschiedsf­eier, nur zu.

Das Abschiedsr­itual, wie immer es aussieht, darf nicht mit dem Company-Kick-off verwechsel­t werden. Das findet statt, wenn alle personelle­n Umbauten abgeschlos­sen sind. Ab jetzt soll Ruhe einkehren. Es wird wieder gearbeitet.

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