Kümmert euch um die Verbliebenen
Survivor Syndrome. Muss man schon froh sein, eine Kündigungswelle überstanden zu haben? Nein, sagen Experten. Man hat das Recht, aufgefangen zu werden.
Seid froh, dass ihr noch da seid!“Eine Kündigungswelle überlebt zu haben muss doch wohl genügen, um wieder fröhlich anzupacken?
Es genügt nicht. Und pragmatische Sätze wie dieser machen es nicht besser. Denn die Verbliebenen haben gegen einen mächtigen Gefühlscocktail anzukämpfen: Angst (wann erwischt es mich?) mischt sich mit Unsicherheit, Frust mit Zorn, Trauer mit Schuld, Zweifel mit Misstrauen. Trennungs- und Outplacement-Spezialist Walter Reisenzein, Geschäftsführer von LHH Austria, nennt sechs Konsequenzen:
► Kreativitätsblockaden. Keine Ideen, keine Innovationen, keine neuen Projekte.
► Die Produktivität sinkt. Die Gerüchteküche kostet Zeit.
► Informationsdurst. Man betreibt großen Aufwand, um die eigene Lage einordnen und womöglich absichern zu können.
► Schuldzuweisungen. Der Chef, das Management, der Konzern, der Markt, Corona – das Gehirn giert nach Schuldentlastung.
► Rechtfertigungen. Typisch für Bereiche, die an der Misere „mitbeteiligt“sind, etwa HR und Finance. I Leugnen. Die Trauer verdrängen, sich in Arbeit oder Zynismus stürzen.
Reisenzein erlebte alle diese Emotionen selbst. Sein früherer Arbeitgeber baute über die Jahre weltweit 100.000 Mitarbeiter ab. „Das vierte Quartal war immer lausig. Jeder war damit beschäftigt herauszufinden, ob es auch ihn treffen würde, und versuchte, sich abzusichern.“Er gewöhnte sich an das Leben im Minenfeld. Als es ihn nach 25 Jahren doch erwischte, „war ich nicht schockiert über die Kündigung. Sondern, dass es auch mir passiert ist.“
Keine Häppchentaktik
Bei den Austrian Airlines überstand Markus Christl auch so manche schlimme Zeit. Seit März ist er deren Personalvorstand. Sein Credo: „Sich nie zuerst um die Scheidenden und dann um die Verbleibenden kümmern. Sondern von Anfang an Hand in Hand.“
Denn Massenkündigungen kosten mehr als „nur“die Abfindungen (siehe Grafik). Von Imageverlust bis Innovationsstau, von Know-how-Abfluss bis Sabotagegefahr reicht die Liste. Gefürchtet ist der Abgang der besten Köpfe, die man eigentlich halten wollte: Sie finden sich als Erste neue Jobs. Christl schwört auf eine Storyline, die beiden Gruppen, den Scheidenden und den Verbliebenen, offen, ehrlich und transparent die volle Wahrheit vermittelt: „Nicht etwa jetzt 100 Kündigungen zugeben und dann die nächsten 100. Gleich das ganze Bild.“
Eine schwierige Rolle kommt dem Mittelmanagement zu. Zwar soll es viel und gut mit den Teams kommunizieren, gleichzeitig kämpft es selbst gegen Trauer- und Verlustgefühle. Reisenzein beschreibt ein typisches Fluchtverhalten: Genau jetzt sind diese Führungskräfte ständig bei Kunden und Lieferanten, um der tristen Stimmung im Haus zu entkommen. Die Mitarbeiter fühlen sich noch mehr alleingelassen.
Christl organisiert dann Schulungen und psychologische Betreuung für die Führungskräfte. Reisenzein bereitet sie auf konkrete Gespräche mit den Verbliebenen vor. Sinngemäß: „Eure Kollegen wurden gekündigt, weil die Stellen weggefallen sind. Nicht, weil sie schlecht gearbeitet haben.“
Mutige stellen sich Q&A-Stunden. Wer an den Entscheidungen mitbeteiligt war, erklärt seine Beweggründe, warum es diesen und nicht jenen Kollegen erwischte: kürzer dabei, schlechtere Bewertung, keine sozialen Verpflichtungen. Das macht die Entscheidungen nachvollziehbar und wirkt Schuldgefühlen bei den Kollegen entgegen.
Abschiedsrituale
Trauerrituale haben einen tiefen Sinn: Sie helfen den Verbliebenen abzuschließen und sich wieder Richtung Zukunft zu wenden. Wie weit diese Rituale gehen sollen, darüber sind die Experten uneinig. Reisenzein rät zu einer Feier, vergleichbar einem – man verzeihe – Leichenschmaus. Gern mit Teilnahme der Scheidenden: „Das ist besonders wirkungsvoll.“Christl ist das „zu morbid“.
Will jedoch ein Scheidender von sich aus eine Abschiedsfeier, nur zu.
Das Abschiedsritual, wie immer es aussieht, darf nicht mit dem Company-Kick-off verwechselt werden. Das findet statt, wenn alle personellen Umbauten abgeschlossen sind. Ab jetzt soll Ruhe einkehren. Es wird wieder gearbeitet.