EU lässt sich nicht in Karten blicken
Brexit. Um den Druck auf London zu erhöhen, will die Kommission ihre Maßnahmen für den Fall eines harten Bruchs nicht publik machen – zum Ärger der EU-Mitglieder.
Brüssel. Der Unterschied zum Vorjahr ist augenfällig: Als im Frühherbst 2019 die Möglichkeit eines ungeregelten Austritts Großbritanniens aus der EU zum ersten Mal im Raum stand, veröffentlichte die EU-Kommission regelmäßige Bulletins zum Stand der Vorbereitungen. Nun aber, nach dem Vollzug des Brexit am 31. Jänner 2020 und 29 Tage vor dem Ablauf der Übergangsperiode, in der die Briten nach wie vor am EU-Binnenmarkt partizipieren dürfen (und vice versa), sieht der Sachverhalt ganz anders aus.
Dem Vernehmen nach verlangen die EU-27 von der Brüsseler Behörde immer ungeduldiger die Bekanntmachung ihrer Notmaßnahmen für den Fall, dass die Briten zu Jahresende aus dem Binnenmarkt crashen – beim Treffen der EU-Botschafter mit BrexitChefverhandler Michel Barnier am Freitag sollen die Bereitschaftspläne nach Informationen der „Financial Times“von allen Vertretern der Mitgliedstaaten eingefordert worden sein. Doch die Kommission will sich nicht in die Karten blicken lassen.
Der Grund für diese Diskretion: Die Verhandlungen über das künftige Verhältnis laufen auf Hochtouren, diese Woche ist Barnier in London, um mit seinem Gegenüber, David Frost, an den noch ausständigen Details zu feilen. Drei Streitpunkte sind noch ungeklärt: erstens Fair-Play-Regeln für den Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische Firmen, zweitens das Sanktionsregime und drittens die Fangquoten für EU-Fischer in britischen Gewässern. Da London bis dato keine Anzeichen gemacht hat, bei den ersten zwei Fragen nachzugeben (beim Fischfang liegen Kompromissvorschläge auf dem Tisch), ist derzeit nicht abzusehen, ob ein Deal bis Jahresende fixiert werden kann. Mit ihrer Zurückhaltung will die Kommission den Eindruck vermeiden, die EU werde auch ohne einen Deal dafür sorgen, dass die Konsequenzen eines Crashs für die Briten nicht allzu hart sein werden.
Was weiß man über den Kontingenzplan? Klar ist, dass die EU auf jeden Fall dafür sorgen wird, dass der Flug- und Autoverkehr zwischen Großbritannien und der EU aufrechterhalten wird – was beispielsweise bei den Landerechten für britische Flieger keine Selbstverständlichkeit ist. Die Verbindung der Kapitalmärkte ist ohnehin nicht
Teil der Verhandlungen und wird ebenfalls bis auf Weiteres aufrechterhalten. Alles andere will Brüssel ohne Berücksichtigung der Briten und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt europäischer Interessen behandeln. Die Pläne vom Herbst 2019 sind jedenfalls großteils obsolet, denn sie behandelten prioritär die Frage der britischen Beiträge zum EU-Budget, die in dem im Jänner ratifizierten Austrittsvertrag geklärt wurde.
Paris will Löwenanteil des Geldes
Apropos Budget: Bei ihrem Gipfeltreffen im Juli vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der EU, dass im Unionshaushalt fünf Mrd. Euro als Brexit-Reserve eingeplant werden. Um dieses Geld ist mittlerweile ein Streit entbrannt, denn nach einem Bericht der „Irish Times“beansprucht Frankreich den Löwenanteil des Geldes für sich – als Rekompensation für französische Fischer. Der wirtschaftlich vom Brexit am stärksten betroffene Mitgliedstaat ist allerdings Irland.
Die Gefechtslage könnte sich dramatisch ändern, sollten die Briten im Zuge eines harten Bruchs mit der EU den Austrittsvertrag aufkündigen, der unter anderem dafür sorgen soll, dass die Grenze zwischen Nordirland und Irland offen bleibt – um den Preis von Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Bricht London den Brexit-Vertrag, müssten an der Grenze zu Irland im Eiltempo Kontrollen eingeführt werden – eine offene Grenze zu Nordirland wäre für die Briten ein Einfallstor in den EU-Binnenmarkt. Nachdem Irland allerdings 40 Prozent seiner Lebensmittel aus Großbritannien importiert und 80 Prozent seiner Ausfuhren über britische Häfen abwickelt, wären die Folgen verheerend – der BrexitFonds der EU müsste dann wohl massiv aufgestockt und neu austariert werden.