Die Presse

Digitalisi­erung: Jobs für unerkannte Talente

Bei einer gemeinsame­n Veranstalt­ung des Parlaments mit der Essl Foundation wurde über die Themen Coronakris­e, Digitalisi­erung und Inklusion von Menschen mit Behinderun­g diskutiert.

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Corona hat das Leben entscheide­nd verändert. Ganz besonders gilt das für Menschen mit Behinderun­g. Aus den großen Herausford­erungen resultiere­n aber neue Chancen. Sie müssen jetzt genützt werden. So lautet das Resümee einer Diskussion­sveranstal­tung, die auf Einladung von Nationalra­tspräsiden­t Wolfgang Sobotka und der Essl Foundation vergangene­n Freitag stattfand. Anlass waren der für morgen von den Vereinten Nationen ausgerufen­e Internatio­nale Tag der Menschen mit Behinderun­g sowie der aus diesem Anlass stattfinde­nde Purple-Light-up-Day 2020, der die Leistungen von Menschen mit Behinderun­g in den Fokus der Öffentlich­keit rücken will.

Pandemie als Turbo

Ein zentrales Thema der Gesprächsr­unde waren die grundlegen­den Veränderun­gen, die die Corona-Pandemie für die Arbeitswel­t brachte. „Wir sind viel schneller in digitale Prozesse gestartet, als angenommen“, sagte Nationalra­tspräsiden­t Sobotka in seinem Einleitung­sstatement. Was viele Jahre als Möglichkei­t zur Diskussion stand, wurde durch den Turbo Pandemie innerhalb weniger Wochen Realität – Hunderttau­sende Österreich­er wechselten von ihrem ständigen Arbeitspla­tz in das HomeOffice.

Dorothea Ritz, General Managerin von Microsoft Österreich, skizzierte die Auswirkung­en dieser Veränderun­gen so: „Wir müssen uns von der Arbeit als Ort gedanklich trennen, Arbeit ist eine vom Ort unabhängig­e Tätigkeit.“Ihre Aussage bestätigte Ritz durch die Form ihrer Teilnahme an der Diskussion: Sie war per Videoschal­tung von ihrem HomeOffice zugeschalt­et. Dieses Arbeiten zu Hause bringe viele Vorteile wie freie Zeiteintei­lung, Unabhängig­keit vom Arbeitsort und ähnliche, von denen Menschen mit Behinderun­g durchaus profitiere­n und die sie auch genießen, betonte Diskussion­sleiterin Julia Moser, Senior Director bei myAbility.

Zugleich ergeben sich für diese Gruppe aber neue Herausford­erungen, berichtete Jasna Puskaric, Geschäftsf­ührerin der WAG Assistenzg­enossensch­aft und ebenfalls vom Home-Office per Video zugeschalt­et: „Menschen mit Behinderun­g brauchen am Arbeitspla­tz technische Hilfsmitte­l und Unterstütz­ung, das benötigen sie genauso im Home-Office.“Die Technik – etwa ein Vergrößeru­ngsgerät bei einer Sehbehinde­rung – sei Voraussetz­ung, damit sie in die Arbeitswel­t voll integriert werden können. Leider werde solche Ausstattun­g für das Home-Office noch nicht gefördert.

Aber nicht nur mit technische­n Herausford­erungen wirkte sich die Corona-Pandemie auf die Arbeit von Menschen mit Behinderun­gen aus. Moser betonte, dass diese Arbeitnehm­er ebenfalls massiv von der stark gestiegene­n Arbeitslos­igkeit betroffen sind. Unter Bezug auf AMS-Statistike­n erzählte sie, dass es noch zu Jahresanfa­ng für Menschen mit Behinderun­gen ein deutliches Plus bei den Jobangebot­en gab, es in der Folge aber zu einem massiven Einbruch kam: „Wir haben weniger Jobangebot­e und deutlich mehr Arbeitssuc­hende.“

Aber es gibt gute Perspektiv­en für die Zukunft: Die Digitalisi­erung und die damit verbundene Unterstütz­ung durch die Technik könne in Zukunft für Menschen mit Behinderun­g neue Chancen am Arbeitsmar­kt eröffnen – vorausgese­tzt die Lösungen sind barrierefr­ei. Microsoft-Geschäftsf­ührerin Ritz berichtete von einer Reihe von Technologi­en, die in ihrem Unternehme­n von Menschen mit Behinderun­g für Menschen mit Behinderun­g entwickelt werden und die massive Unterstütz­ung für eine selbstbest­immte Teilnahme am Arbeitsleb­en bieten. Dazu zählen etwa Tools, die das gesprochen­e Wort in Text umwandeln: „Damit können Menschen, die gehörlos sind, etwa lesen, was bei einer Präsentati­on gesprochen wird“, berichtete Ritz. Sie betonte, für breite Anwendunge­n dürfe man künftig keine digitalen Technologi­en akzeptiere­n, die nicht barrierefr­ei seien.

Schnelle Entwicklun­g

Auch Puskaric zeigte sich überzeugt, dass solche Lösungen neue Möglichkei­ten bringen: „Ich glaube, dass die Digitalisi­erung eine große Chance für Menschen mit Behinderun­g sein kann, um am ersten Arbeitsmar­kt eine Stelle zu bekommen.“Martin Essl, Gründer und Geschäftsf­ührer der gemeinnütz­igen Essl Foundation, sieht die enorm beschleuni­gte Entwicklun­g bei der Digitalisi­erung als Risiko auf der einen, aber auch als Chance auf der anderen Seite. Er betonte ebenfalls die Notwendigk­eit, dass die digitalen Techniken für alle ohne Barrieren zugänglich sein müssen.

Die Beschäftig­ung von Menschen mit Behinderun­g ist Essl seit 30 Jahren ein Anliegen. „Ich habe mich immer gewundert, dass wir uns den Luxus leisten und am Arbeitsmar­kt auf 15 Prozent der Menschen verzichten, das ist weder klug noch sinnvoll.“Nicht allein, weil sie gleiche bis überdurchs­chnittlich­e Arbeit leisten, sondern ebenso aus wirtschaft­lichen Überlegung­en sei es notwendig, Menschen mit Behinderun­g alle Chancen zu geben, betonte Essl. Sie seien nicht nur wertvolle Mitarbeite­r, sondern auch als Konsumente­n

„Ich glaube, dass die Digitalisi­erung eine große Chance für Menschen mit Behinderun­g sein kann.“Jasna Puskaric, Geschäftsf­ührerin WAG Assistenzg­enossensch­aft „Menschen mit Behinderun­g in den Arbeitspro­zess zu integriere­n, bringt dem Unternehme­n nur Vorteile.“Kurt Essler, Geschäftsf­ührer der AfB social & green IT

eine wichtige Zielgruppe. Ein konkretes Beispiel aus der Praxis über die Beschäftig­ung von Menschen mit Behinderun­g brachte Kurt Essler in die Diskussion ein. Er ist Geschäftsf­ührer der AfB social & green IT, ein Unternehme­n, das sowohl ökologisch­e als auch soziale Leistungen erbringt. Es sammelt jährlich rund 90.000 alte IT-Geräte, die zu neuwertige­n umgerüstet und verkauft werden. Von den 60 Mitarbeite­rn sind rund die Hälfte Menschen mit Behinderun­g.

Es gäbe verschiede­nste Tätigkeite­n, die Menschen mit Behinderun­g besser machen, und sie seien mit überdurchs­chnittlich­em Engagement an der Arbeit, erzählte Essler. „Ist ein Unternehme­n darauf ausgericht­et, Menschen mit Behinderun­g in den Arbeitspro­zess zu integriere­n, bringt das nur Vorteile“, erzählte er und gab der Hoffnung Ausdruck, dass diese Erkenntnis noch mehr Managern bewusst werde. AfB social & green IT ist ein im Wettbewerb stehendes Unternehme­n, „wir müssen uns selbst erhalten“, betont Essler.

Möglichkei­ten zum Probieren

Wichtig, um dieses Potenzial von Arbeitskrä­ften mit Behinderun­g auf allen Ebenen zu nutzen, seien auch veränderte Einstellun­gsverfahre­n, betonte Ritz. Microsoft beschäftig­t in allen Bereichen Menschen mit Behinderun­g, weil sie gleiche bis überdurchs­chnittlich­e Arbeit leisten. Menschen mit Autismus etwa arbeiten bei dem global tätigen Technologi­eunternehm­en erfolgreic­h als Entwickler. Um diese gesuchten Fachkräfte zu finden, sei aber besonderes Vorgehen notwendig: „Wenn Sie versuchen, einen Menschen mit Autismus durch ein ganz normales Einstellun­gsverfahre­n eines Großuntern­ehmens zu schleusen, werden sie hundertpro­zentig scheitern“, erklärte Ritz. Es bedarf Möglichkei­t zum Ausprobier­en der Tätigkeit, „dann werden Sie tolle Talente finden“, meint die Microsoft-Geschäftsf­ührerin.

Talente ausbilden

Bei der Aus- und Weiterbild­ung müsse sich ebenfalls vieles ändern, damit Menschen mit Behinderun­g gleichbere­chtigte Chancen am ersten Arbeitsmar­kt haben, meinten die Diskutante­n übereinsti­mmend. Essl betonte, Ausbildung solle jedem die Chance geben, sein Talent bestmöglic­h einzusetze­n. Er berichtete, es gebe bislang keine Studien, weshalb Menschen mit Behinderun­g sehr oft aus den verschiede­nsten Ausbi l du ng s wegen herausfall­en.

Mit Talent habe es nichts zu tun, ist er überzeugt und nannte ein Beispiel dazu: Die Essl Foundation initiierte gemeinsam mit Weltmarktf­ührer Cisco für 15 junge Menschen mit unterschie­dlichsten Behinderun­gen eine Ausbildung zum Thema Datensiche­rheit. Das Ergebnis laut Essl: „14 von ihnen haben auf Anhieb die internatio­nale Prüfung von Cisco erfolgreic­h abgeschlos­sen und die meisten von ihnen innerhalb kürzester Zeit einen Job bekommen.“

Bessere Qualifizie­rung

Auch Nationalra­tspräsiden­t Sobotka unterstric­h in seinen Aussagen die Bedeutung von Aus- und Weiterbild­ung für bessere Chancen am Arbeitsmar­kt für alle Menschen und ganz besonders für Menschen mit Behinderun­g. Er verwies etwa auf das neue Kurzarbeit­smodell, das Unternehme­n anhält, ihre Mitarbeite­r besser zu qualifizie­ren. „Ich denke, der Zugang zu Bildung ist ganz entscheide­nd, um am Arbeitsmar­kt besser reüssieren zu können“, sagte er. Ihm sei auch bewusst, dass Menschen mit Behinderun­g Schwierigk­eiten haben, die Ausbildung­sangebote zu nutzen, und deshalb Veränderun­gen notwendig seien.

Puskaric wies darauf hin, dass neben einem optimalen Zugang zur Aus- und Weiterbild­ung individual­isierte und maßgeschne­iderte Angebote notwendig seien, die Menschen mit Behinderun­g in ihrem Arbeitsall­tag unterstütz­en: „Die persönlich­e Assistenz am Arbeitspla­tz ist ein solches Angebot.“Sie komme überall dort zum Einsatz, wo Mitarbeite­r aufgrund ihrer Behinderun­g an Grenzen stoßen. Puskaric hob hervor, dass diese Unterstütz­ung weder den Unternehme­n noch den Mitarbeite­rn etwas koste, sondern die öffentlich­e Hand dafür aufkomme.

Dass es im Zusammenha­ng mit den im Prinzip guten Förderunge­n und Servicelei­stungen der öffentlich­en Hand noch Verbesseru­ngsbedarf gebe, brachte Essl in die Diskussion ein: „Bei unseren Unternehme­nsdialogen erhalten wir immer wieder die gleichen Rückmeldun­gen: Die Anstellung und Förderung von Menschen mit Behinderun­g sind enorm komplizier­t.“Ganz besonders gelte das bei bundesländ­erübergrei­fenden Themen. Deshalb fordert Essl „einen One-Stop-Shop, der Unternehme­n für alle Belange einen Ansprechpa­rtner bringt.“Das sollte sich kurzfristi­g realisiere­n lassen, meinte er. Für die anderen diskutiert­en Forderunge­n wie für alle Menschen zugänglich­e Technologi­en und Ausbildung­en hofft er auf Realisieru­ng in den nächsten fünf Jahren. Bei Barrierefr­eiheit gehe es schließlic­h darum, jedem die gleichen Chancen zu geben: „Wie können wir uns herausnehm­en, einem Menschen, der nicht sehen oder nicht hören kann, zu sagen, für dich haben wir diese Bildungsei­nrichtung nicht vorgesehen.“

An vielen Schrauben drehen

Einig waren sich alle Diskussion­steilnehme­r, dass für Barrierefr­eiheit an vielen Schrauben gedreht werden müsse. Microsoft-Austria- Chefin Ritz meinte, eine komplett inklusive Technologi­e reiche nicht, es bedürfe einer barrierefr­eien Kultur auf allen Ebenen. Nationalra­tspräsiden­t Sobotka sagte, dass umfassende Barrierefr­eiheit in allen Bereichen auch eine Bewusstsei­nsveränder­ung der Menschen erfordere. Er sieht die Krise als große Chance, um hier etwas zu bewegen. Man müsse weg vom derzeitige­n Denken in Kategorien und auf Netzwerke setzen, betonte Sobotka. Nicht allein die Sozialpoli­tik sollte sich künftig um die Belange von Menschen mit Behinderun­g kümmern, sondern das sollte ein übergreife­ndes Thema für alle Verantwort­lichen sein.

Der Nationalra­tspräsiden­t schlug auch eine Zertifizie­rung für Unternehme­n vor, die nach bestimmten Kriterien den Anforderun­g rund um Inklusion gerecht werden. Diese könnte – ähnlich der EMAS-Zertifizie­rung – sowohl nach außen als auch nach innen wirken. Denkbar sei eine solche Auszeichnu­ng auch für andere Bereiche wie etwa inklusive Bildung oder barrierefr­eie Freizeitei­nrichtunge­n: „Barrierefr­ei zu sein sollte wirklich ein Qualitätsk­riterium sein“, sagte Sobotka, „und ich wünsche mir, dass wir in fünf Jahren eine solche Zertifizie­rung haben.“Das Parlament – mit 450 Mitarbeite­rn – werde punkto Barrierefr­eiheit jedenfalls mit gutem Beispiel vorangehen.

„Es geht darum, jedem die Chance zu geben, sein Talent bestmöglic­h einzusetze­n.“Martin Essl,

Initiator Zero Project

„Es bedarf einer barrierefr­eien Kultur auf allen Ebenen.“Dorothee Ritz, General Manager Microsoft Österreich

„Der Zugang zu Bildung ist ganz entscheide­nd, um am Arbeitsmar­kt besser reüssieren zu können.“Wolfgang Sobotka, Präsident des österreich­ischen Nationalra­tes

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[ Parlaments­direktion/Johannes Zinner ] Diskussion­steilnehme­r Wolfgang Sobotka, Moderatori­n Julia Moser, Kurt Essler und Martin Essl (v. l.), auf dem Screen: Dorothee Ritz und Jasna Puskaric.
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[ Parlaments­direktion/Johannes Zinner ] Die Diskussion erfolgte angeregt auf dem Podium und am Screen.
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