Getrennte Welten gibt es nicht
Eines Tages in einem Antiquariat: Da war diese Taschenpartitur des dritten Rasumowsky-Quartetts, darin Einträge zu Aufführungen von 1901 bis 1954. Ein Fundstück, das viele Fragen stellt. Etwa zum Bedeutungswandel eines Werks in wechselnden Zeiten.
Die Musik Beethovens ist Teil unserer Kultur. Die Wahl einer Melodie aus dem letzten Satz seiner Neunten Symphonie zur Europahymne zeigt das. Seine Widmung der Dritten Symphonie für Napoleon und deren Widerruf, nachdem dieser sich zum Kaiser gekrönt hatte, sowie seine einzige Oper werden als Bekenntnis zu politischer Freiheit gewertet.
Aber seine Musik wurde auch in den Jahrzehnten vor dieser erfreulichen Entwicklung gespielt und gehört, eine Periode, in der die humanistischen Aspekte wenig wirksam waren. Ein Dokument dieser Kontinuität habe ich vor längerer Zeit in einem Antiquariat gefunden. Eine kleine Taschenpartitur seines Streichquartetts op. 59/3, des dritten Rasumowsky-Quartetts. Auf der Innenseite des Deckblattes befinden sich 14 Eintragungen von Aufführungen, wann es gehört wurde und wer gespielt hat. Die Reihe beginnt mit dem Prill-Quartett am 11. März 1901 und endet am 23. Januar 1954 mit dem Kölner Quartett.
Es ist immer dieselbe Schrift mit Tinte. Über die Person ist nichts bekannt, wahrscheinlich eine Frau. Sicher ist, sie war keine Jüdin. Das belegen drei Eintragungen, nämlich die vom 17. Oktober 1940 (MildnerQuartett), die vom 21. Oktober 1941 (Schlesisches Quartett) und die vom 27. November 1942 (Schneiderhahn-Quartett). Ähnlich dicht war die Abfolge der besuchten Aufführungen nur während des Ersten Weltkriegs, nämlich 2. Dezember 1914 (Böhmisches Streichquartett) und 9. November 1915 bzw. 12. Dezember 1916, beide Rose-´Quartett.
Auch die Stadt der Aufführungen ist angeführt. Die aber war immer Wien, mit Ausnahme der zweiten Eintragung vom 11. Dezember 1909 in Liverpool (Schiener-Quartett). Bei dieser Reise dürfte die Partitur gekauft worden sein. Auf dem Titelblatt, in englischer Sprache, finden sich drei Namen, nämlich Ernst Eulenburg Leipsic, E. Donajovski London und Payne‘s Miniature Scores, am kleinsten der von Eulenburg. Der aufgedruckte Preis ist in englischer Währung angegeben, 1 Shilling.
Wie wurde dieses Quartett gehört? Etwa am 2. Dezember 1914 im mittleren Saal des Konzerthauses, heute Mozartsaal. Es war ein Freudentag im Staat, der 66. Jahrestag der Thronbesteigung von Kaiser Franz Joseph. In Wien war bekannt geworden, dass Belgrad eingenommen worden war. Dass es nur ein kurzer Erfolg sein sollte, war noch verborgen. Jedenfalls war ein patriotischer Aspekt mit dem Konzert verbunden. Der Reinertrag ging an die Kriegshilfe in Wien und Prag.
Armee mit Beethoven tüchtiger?
War die Musik von Beethoven die Krönung des Tages? Haben die Besucher des Konzerts gehört, dass die Armee des Volkes mit Beethoven tüchtiger war als die eines Staates, der keinen vergleichbaren Komponisten als geistigen Mitkämpfer anführen konnte? Oder war dieses Streichquartett der Trost über die Schrecknisse des Krieges?
Vielleicht war die Besitzerin dieser Partitur oder ein anderer Hörer dieses Konzerts kurz davor, am 19. November, im gleichen Saal anwesend, als Karl Kraus mit der Rede „In dieser großen Zeit“seine Auseinandersetzung mit dem kriegführenden Österreich begonnen hatte. Die schriftliche Version erschien in der „Fackel“im Dezember dieses
Jahres. Oder am 27. Oktober 1942, die Wehrmacht war in Stalingrad noch nicht eingekesselt. Der „Völkische Beobachter“meldete die Abwehr der Angriffe der Roten Armee. Er meldete auch, dass das Konzert des Schneiderhahn-Quartetts im Brahmssaal des Musikvereins ausverkauft sei und es daher keine Abendkasse geben werde. Wurde der Genuss an dieser Beethoven-Aufführung durch diesen vermeintlichen Sieg der Wehrmacht gesteigert, und war die Besitzerin der Partitur zufrieden damit, dass die Mitglieder dieses Quartetts sowohl den Rassengesetzen Hitlers genügten als auch in der Lage waren, dieses Werk zu spielen? Oder spürte sie Wehmut in der Erinnerung an die drei Aufführungen des Rose-´Quartetts, die sie zwischen 1915 und 1920 gehört hatte?
Der Name Rose´ war jedenfalls für regelmäßige Besucher von Konzerten in Wien ein guter Name. Arnold Rose´ war aus Wien 1938 vertrieben worden, ebenso wie das Kolisch-Quartett, dessen Aufführung dieses Stückes die Eigentümerin dieser Partitur am 22. Februar 1935 im Mozartsaal des Konzerthauses vermerkte. Rose´ konnte nach England entkommen. Dem Kolisch-Quartett gelang es, in den USA Fuß zu fassen. Alma Rose´ wurde 1943 die Leiterin des Frauenorchesters in Auschwitz, wo sie 1944 an einer Krankheit starb. Wollten die SS-Offiziere sich von ihren Mühen des Mordens mit Beethoven erholen?
Bemerkte die Eigentümerin dieser Taschenpartitur am 22. November 1947 den Unterschied zwischen der vom französischen Pasqual-Quartett gebotenen Aufführung und den davor gehörten? Dieses Quartett, dessen Interpretationen sämtlicher Streichquartette Beethovens seit Jänner 2020 (!) erneut zu kaufen ist, soll eine französische Musiktradition eingebracht haben. War sie erleichtert über das Neue, oder war das Neue für sie eine traurige Folge der Besatzung Österreichs auch durch französische Truppen?
Vielleicht war alles ganz anders. Beethoven, von guten Musikern gespielt, ist einfach ein schönes Erlebnis. Was immer sonst sich ereignet, ist nebensächlich. Freilich, wenn das zutrifft, dann verliert diese Musik die Bedeutung, die man ihr gibt, wenn man von ihr als Teil unserer Kultur spricht. Sie wird zu einem beliebig Schönen herabgewürdigt. Man könnte sich heute zwar freuen über Beethovens Bekenntnisse zu Freiheit und Brüderlichkeit, aber diese wären nicht in seiner Musik enthalten.
Thomas Mann schrieb im September 1945 in einem Brief über seine Empörung, dass während der Nazizeit Aufführungen von „Fidelio“nicht verboten waren. Sogar kultivierte Aufführungen dieses Werks waren geboten worden. Das schien ihm schrecklich. In „Doktor Faustus“lässt er den in Deutschland lebenden Erzähler der Geschichte gegen Ende des Krieges sagen, dass nach der Befreiung wieder „Fidelio“und die Neunte gespielt werden können. In seinem Bericht über die Entstehung des Buches stellt Thomas Mann explizit die Frage, ob das musikalische Genie überhaupt etwas mit der Humanität einer Gesellschaft zu tun hat. Er beantwortet sie mit der Feststellung, dass Beethoven ein „Mann des Glaubens an revolutionäre Menschenliebe“gewesen sei.
Thomas Manns Empörung kann als Ausdruck des Wunsches gesehen werden, dass seine Kultur nichts mit der des HitlerRegimes gemeinsam habe. Dieser Wunsch ist nur zu verständlich. Denn was sagt es aus über eine Kultur, wenn deren Werke im Bildungskanon eines imperialen Eroberungskrieges und eines Mörderregimes Bedeutung haben konnten? Wir hätten es gern, wenn unsere Kultur und die der Barbarei klar getrennte Welten wären. Dieser Wunsch entspricht nicht der Wirklichkeit.
Louis-Ferdinand Celine´ wurde mit seinem 1932 veröffentlichten Buch „Reise ans Ende der Nacht“zu einem Wegbereiter moderner Literatur. Nichts von national-konservativer Gesinnung ist darin zu finden.
Widerspruch zum Naziregime?
Fünf Jahre später veröffentlichte er ein antisemitisches Pamphlet. Während der Besatzung Frankreichs war er aktiver Kollaborateur. Celine´ sah keinen Widerspruch zwischen seinen Werken und seiner Gesinnung. Gute Kunst und Antihumanismus sind vereinbar. Das schmerzt.
Es gibt jedoch einen beruhigenden Aspekt dieser Verbindung von guter Kunst und Antihumanismus. Man stelle sich vor, Nazideutschland wäre erfolgreich gewesen in seinem Bemühen, Kunstwerke, denen die Hoffnung auf Freiheit entnommen werden kann, aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Die Besitzerin dieser Partitur hätte längere Zeit Beethovens Werke nicht in Konzertsälen hören können. Vielleicht hätte sie das in Widerspruch zum Naziregime gebracht. Oder hätte sie sich angefreundet mit einer Musik, die zu einem Völkermord passt?
Hätte es einen Nachwuchs für die Orchester gegeben, der mit Beethoven vertraut war? Gerade wenn man dieser Musik bescheinigt, dass sie Ausdruck einer Sehnsucht nach Freiheit ist, hat die Kontinuität einer humanistischen Kunst auch in extrem antihumanistischen Zeiten Bedeutung. Sicher wurden manche Liebhaber der Musik Beethovens wegen dieser Kontinuität mit dem Naziregime versöhnt, vielleicht auch die Eigentümerin dieser Partitur. Richard Strauss, Clemens Krauss, Herbert von Karajan und andere gaben dem Naziregime den Anschein einer zivilen Kultur. Aber sie erleichterten auch eine Rückkehr zu den Wertungen, die heute mit der Musik Beethovens verbunden werden.