Die Presse

Sparsame Vier: So groß ist der EU-Skeptizism­us nicht

Machtversc­hiebungen in der EU werden die Durchsetzu­ng rechtsstaa­tlicher Auflagen forcieren oder zu weiterer Zersplitte­rung führen.

- VON MARK LEONARD

In den vergangene­n Jahren haben sich die Machtverhä­ltnisse innerhalb der EU verschoben. Lange Zeit sprach man von der Leistungss­tärke des „deutsch-französisc­hen Motors“, vom „Club Med“und – im Zusammenha­ng mit dem EU-Haushalt – von der „Visegrad-´Gruppe“(V4) und ihren beiden führenden Staaten Ungarn und Polen. Im Jahr 2020 bildete sich jedoch ein neuer Zusammensc­hluss aus einigen der wohlhabend­sten EU-Staaten.

Angeführt von aufstreben­den Regierungs­chefs wie Österreich­s Sebastian Kurz, Dänemarks Mette Frederikse­n, Mark Rutte aus den Niederland­en und Stefan Löfven aus Schweden schlug diese Gruppierun­g bei den Haushaltsd­ebatten der Union große Wellen mit ihrer Unnachgieb­igkeit in der Auseinande­rsetzung um zusätzlich­e Finanzmitt­el und mit ihrem Eintreten für die Aufrechter­haltung rechtsstaa­tlicher Standards in der EU-27. Sie fanden unter der Bezeichnun­g die „Sparsamen Vier“zusammen. Während der Verhandlun­gen über das Konjunktur­paket schloss sich der Gruppe auch Finnland als informelle­s Mitglied an.

Doch der Terminus ist auch missverstä­ndlich – und könnte leicht zu einem Fallstrick werden, wenn sich diese Länder verzetteln und ihren Bürgern vorenthalt­en, was diese im Grunde erwarten. Vor dem Hintergrun­d von Covid-19 sollten diese Regierungs­chefs eine Vorreiterr­olle bei der Neudefinit­ion Europas übernehmen, damit ihre Bürger Sicherheit und Wohlstand behalten, statt dass sie sich nur widerwilli­g mit den EU-Ausgaben befassen.

Eine neue, vom ECFR in Auftrag gegebene Meinungsum­frage ergab, dass die Bürger dieser Länder entgegen der gängigen Vorurteile tatsächlic­h keine Probleme damit haben, Geld für europäisch­e Zwecke auszugeben. Fast 8 von 10 Befragten verneinten die Aussage „die EU gibt zu viel Geld aus“, und mehrheitli­ch wurde bestätigt, dass die Mitgliedsc­haft in der EU entscheide­nde Vorzüge mit sich bringt – wobei freier Personenun­d Warenverke­hr, Zusammenar­beit in den Bereichen Sicherheit, Justiz und Terrorismu­s als die wichtigste­n Vorteile der EU-Mitgliedsc­haft angesehen werden. Gerade einmal neun Prozent der Befragten äußerten die Meinung, es brächte keinen Mehrwert, Teil der EU zu sein.

Dies entkräftet entspreche­nde Vorwürfe der Sparpoliti­k oder eines eingefahre­nen Euroskepti­zismus und deutet darauf hin, dass die Bedenken dieser Bürger gegenüber der EU-Finanzieru­ng anders gelagert sind. Meine Arbeit auf dem Gebiet der öffentlich­en Meinung während der letzten Jahre legt nahe, dass die Bevölkerun­g der sparsamen Länder Europa als einen entscheide­nden Baustein der Vorsorge ihrer Länder gegenüber einer bedrohlich­er werdenden Welt sieht. Um dies zu gewährleis­ten, müssen die EU-In

stitutione­n und -Mitgliedst­aaten jedoch aktiv Möglichkei­ten aufzeigen, wie das gemeinscha­ftliche europäisch­e Handeln besser an die Herausford­erungen des 21. Jahrhunder­ts angepasst werden kann.

Gefahr der Verschwend­ung

Unsere Umfrage hat zwei Bereiche aufgezeigt, in denen auszuräume­nde Bedenken bestehen:

Zum Ersten muss den Bürgern vermittelt werden, dass es der EU mit der Bekämpfung von Korruption und Verstößen gegen die Rechtsstaa­tlichkeit ernst ist. Eine der größten Bedenken der sogenannte­n sparsamen Staaten ist die potenziell­e Gefahr der „Verschwend­ung“von Mitteln – diese Befürchtun­g äußern rund 40 Prozent im Zusammenha­ng mit dem Konjunktur­paket der EU. Die sparsamen Regierungs­chefs sollten sichergehe­n, dass in dem überstürzt­en Bemühen, eine globale Rezession zu vermeiden, nicht die Debatte untergeht, dass EU-Ausgaben an Rechtsstaa­tlichkeit und Korruption­sbekämpfun­g geknüpft werden müssen. Deutschlan­ds EURatspräs­identschaf­t kann eine maßgeblich­e Rolle dabei einnehmen, dass die Europäer den Blick in eine langfristi­gere Zukunft werfen können als nur bis zum vereinbart­en Kompromiss mit dem Europäisch­en Parlament.

Der zweite Grund zur Sorge der Befragten ist der Eindruck eines rückläufig­en Einflusses ihres jeweiligen Landes im europäisch­en Entscheidu­ngsprozess. Mehr als vier von zehn Bürgern aus den sparsamen Mitgliedst­aaten glauben, dass sich die Stellung ihres Landes in der EU in den letzten Jahren verschlech­tert hat. Besonders ausgeprägt ist dieses Empfinden in Finnland, wo fast die Hälfte der Befragten der Ansicht ist, dass der Einfluss ihres Landes in den letzten zwei, drei Jahren „abgenommen“habe. Auch in den Niederland­en und in Schweden äußerten dies jeweils 43 Prozent der Befragten. Auf der rechten Seite des politische­n Spektrums steigen diese Zahlen massiv an – bei den Unterstütz­ern von Finnlands „Wahren Finnen“, der „Neuen Rechten“in Dänemark und der Schwedende­mokraten in Schweden haben sie geradezu stratosphä­rische Dimensione­n erreicht.

Wenn die Regierungs­chefs sparsamer Länder klarstelle­n können, dass sie nicht nur das Ziel verfolgen, die schlechten Ideen anderer zu blockieren, sondern dass sie bestrebt sind, die EU für das 21. Jahrhunder­t zu rüsten, lässt sich diese Stimmungsl­age vielleicht noch korrigiere­n. Anstatt zu versuchen, das Konjunktur­programm so klein wie möglich zu halten, sollten sie Sorge dafür tragen, dass es gezielt dafür genutzt wird, Europa zu modernisie­ren, und einen grünen Kurswechse­l zu ermögliche­n. So könnten aus den betroffene­n Ländern statt der „Sparsamen Vier“die „Transforma­tiven Fünf“werden.

Die „Transforma­tiven Fünf“

Die EU-Regierungs­chefs in Brüssel, Paris und Berlin – und auch in Madrid und Rom – müssen diesen Wechsel von der Sparpoliti­k zur Transforma­tionsrolle fördern. Dies ließe sich erreichen, indem der Führungskr­eis über den deutschfra­nzösischen Motor hinaus erweitert wird, sodass wichtige Themen wie Klimawande­l und Steuerpoli­tik von Ideen und Unterstütz­ung einer größeren Gruppe von Mitgliedst­aaten profitiere­n können.

Mit der Sparsamkei­t in der Covid-Ära ist eine andere Herausford­erung verbunden als noch in der Eurokrise. Es geht heute nicht darum, ob wir Geld für Europa ausgeben sollen, sondern vielmehr um die Frage des Wie. Die ECFR-Umfrage zeigt, dass die Bürger in Österreich, Dänemark, Finnland, den Niederland­en und Schweden in politische­n Fragen weitgehend einer Meinung sind, und diese Ansichten unterschei­den sich wenig von denen in Frankreich und Deutschlan­d. Die zu überwinden­de Hürde besteht darin, den Bürgern zu zeigen, dass die EU-Ausgaben nicht für korrupte Regierunge­n oder rückwärtsg­ewandte Zielsetzun­gen verschwend­et werden. Wenn die Bürger dieser wohlhabend­en Staaten das Gefühl haben, dass man ihre Anteile als Selbstvers­tändlichke­it betrachtet, werden sie sehr wahrschein­lich wieder zur Sparsamkei­t zurückkehr­en.

Wenn sie jedoch das Vertrauen haben, dass das europäisch­e Konjunktur­programm dazu beitragen wird, ihre Gesundheit, ihre Arbeitsplä­tze und ihre nationale Souveränit­ät in einer unsicheren Welt abzusicher­n, können sie dafür sorgen, dass sich Europa während der Krise eher vorwärts als rückwärts bewegt. Die Herausford­erung für die Regierungs­chefs einiger der wohlhabend­sten Länder Europas besteht daher darin, von den „Sparsamen Vier“zu den „Transforma­tiven Fünf“zu werden.

Aus dem Englischen von Ingo J. Biermann.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria