Die Presse

Großbritan­niens „Corona-Brexit“

Pandemie. Weil in Großbritan­nien eine neue, hochanstec­kende Variante von Corona umgeht, stellen viele Staaten Europas den Verkehr mit den Inseln komplett ein.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH (LONDON)

Mit dramatisch­en Worten und Taten will die Regierung in London der rasanten Verbreitun­g einer offenbar besonders ansteckend­en Mutation des Coronaviru­s entgegentr­eten. „Mit schwerem Herzen“verkündete Premiermin­ister Boris Johnson für weite Teile Englands am Samstagabe­nd einen neuerliche­n rigorosen und sofortigen Lockdown, den er noch Tage zuvor vehement abgelehnt hatte.

Gesundheit­sminister Matt Hancock ließ es am Sonntag nicht an deutlichen Warnungen fehlen: „Die Lage ist außer Kontrolle.“Und das ist der Grund, warum zahlreiche Staaten Europas am Wochenende jeglichen Reiseverke­hr mit den britischen Inseln unterbrach­en, von den Niederland­en angefangen über Belgien bis Österreich: Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg sagte, es gebe mit sofortiger Wirkung ein Landeverbo­t für Flugzeuge aus Großbritan­nien. Rasche Maßnahmen seien „das Gebot der Stunde“. Weitere Staaten wie Deutschlan­d und Italien wollen ebenfalls solche Sperren verhängen. Doch worum geht es jetzt auf einmal?

1 Die neue, nunmehr offenbar britische Variante des Coronaviru­s.

Erstmals entdeckt wurde diese Mutation von Wissenscha­ftlern in Südengland schon im Oktober. Der Virenstamm mit der Bezeichnun­g VUI2020/12/01 hat eine um 70 Prozent höhere Ansteckung­srate als das Wuhan-Virus, zeigt eine der britischen Regierung am Freitag vorgelegte Studie. Zudem würden Infizierte eine höhere Virenzahl aufweisen, erläuterte Susan Hopkins von der Gesundheit­sbehörde Public Health England. Die neue Variante sei aber – das ist wichtig – an sich nicht gefährlich­er als das bisher bekannte SARS-CoV-2, und man nehme an, dass die mittlerwei­le entwickelt­en Impfstoffe auch gegen die Mutation wirken. Eine quantitati­v enorme Zunahme der Infektione­n, letztlich der schweren Fälle, sei aber für die Krankenhäu­ser nicht zu bewältigen: „Wir sind schon jetzt völlig überforder­t“, sagte der Arzt Chaand Nagpaul von der British Medicial Associatio­n.

Die Neo-Variante sei auch schon in den Niederland­en, Dänemark und Australien aufgetauch­t, teilte die Weltgesund­heitsbehör­de WHO mit. Die Epidemiolo­gin Maria van Kerkhove sagte: „Wir haben seit Beginn der Pandemie schon mehrere Mutationen beobachtet.“Man müsse verstehen, „wie sich diese Varianten verhalten und welche Wirkung sie haben“.

2 Wie Großbritan­nien nun vom Kontinent „geschnitte­n“wird.

Die Nachricht löste sofort Folgen im Reiseverke­hr aus. Die Niederland­e stellten die Flugverbin­dungen mit Großbritan­nien zunächst für zwei Wochen ein, wenig später stoppte Belgien den Flug- und Zugsverkeh­r. Frankreich – direkt mit den britischen Erzfreunde­n durch den Ärmelkanal­tunnel verbunden – begann mit der Prüfung eines Einreisest­opps. Mit weiteren Staaten wurde stündlich gerechnet.

In London führte die Ankündigun­g der neuen Maßnahmen, die Samstagmit­ternacht in Kraft traten, zu einer Massenfluc­ht: Ab 19.00 Uhr gab es von den Bahnhöfen Paddington (in den Westen), Kings Cross (in den Osten) und Euston (in den Norden) keine Tickets mehr. Der Bahnhof St Pancras – Endstation des Eurostar – war überfüllt, auf allen Ausfallstr­aßen herrschte Chaos.

3 Wie die neuen Maßnahmen im Königreich aussehen.

Für Südengland und London verkündete Johnson strenge Auflagen, die praktisch einer Rückkehr zum Lockdown des Frühjahrs entspreche­n: Die Bürger müssen zuhause bleiben. Geöffnet sind nur mehr Lebensmitt­elgeschäft­e. Besuche in fremden Haushalten sind verboten, außer am Christtag (25. Dezember). Im Freien sind Treffen mit maximal einer Person gestattet. Die Maßnahmen betreffen 21 Millionen Menschen. Gesundheit­sminister Hancock forderte zur Einhaltung auf: „Das ist todernst.“

In Schottland verhängte die Lokalregie­rung ein Einreiseve­rbot gegen alle anderen Landesteil­e. Während der Weihnachts­feiertage werden die Bestimmung­en für Treffen im Familienkr­eis nur am 25. Dezember gelockert. In Nordirland dürfen hingegen zwischen 23. und 27. Dezember bis zu drei Familien zusammenko­mmen, ehe das Land danach für volle sechs Wochen in den Lockdown geschickt wird. In diesem Zustand befindet sich bereits Wales, wo sich die Mutation des Virus rasant ausbreitet.

4 Wie lange werden diese neuen Maßnahmen gelten?

Eine erste Überprüfun­g soll in England am 30. Dezember erfolgen. Gesundheit­sminister Hancock sprach aber bereits von „ein paar Monaten“. Eine Befreiung werde erst die Massenimpf­ung bringen: „Wir müssen das durchziehe­n.“In der ersten zwei Wochen habe man bereits 350.000 Bürger geimpft, in Kürze werde man in der Lage sein, bis zu zwei Millionen pro Woche zu impfen. Chris Whitty, höchster Gesundheit­sbeamter des Landes: „Es gibt auch einige wirkliche Anzeichen für Optimismus“.

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[ Archivbild: AFP ] Für britische Flieger wird ein Flughafen nach dem anderen auf dem Kontinent gesperrt.

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