So esoterisch war Isaac Newton
Wissenschaft. Die Königselle der Pyramiden und Alchemie, Zahlencodes und der Weltuntergang nach 2060: Die Versteigerung eines Manuskripts wirft neues Licht auf die obskure Seite des genialen Physikers Newton.
VON KARL GAULHOFER
Der Hund des Hauses soll den Tisch gerammt und dabei eine Kerze umgestoßen haben. So verbrannte ein Teil der handschriftlichen Notizen, auch die verbliebenen Teile sind angesengt. Nicht schade darum, möchte man meinen, wenn man die drei dicht vollgekritzelten Seiten entziffert, die jüngst bei Sotheby’s versteigert worden sind. Wirres Zeug: Da hat offenbar jemand versucht herauszufinden, wie lang die Königselle der alten Ägypter war.
Göttliche Offenbarungen
In dieser Einheit gemessen, sollten die Dimensionen der großen Pyramide von Gizeh den Erdumfang verraten, über den man einst durch göttliche Offenbarungen Bescheid wusste. War erst einmal die Königselle geknackt, ließe sich auch die heilige Elle der Juden rekonstruieren. Nach ihr wurden die Maße des salomonischen Tempels berechnet. Und sie sollten dann, zusammen mit Zahlencodes aus der Bibel, den Zeitpunkt der Apokalypse verraten. Nicht vor dem Jahr 2060, aber dann, aber dann!
Das klingt wie aus einem esoterischen Thriller von Dan Brown oder aus dem „Foucaultschen Pendel“, Umberto Ecos Abrechnung mit obskuren Geheimlehren. Aber gut: Der Mann, der so seltsame Ideen ausbrütete, war ja auch ein besessener Alchemist, der sich bei Experimenten mit Quecksilber und Blei mehrmals vergiftete. Er glaubte, mit dem Stein der Weisen ließen sich unedle Metalle in Gold verwandeln. Ein „Lebenselixier“sollte ihn unsterblich machen. Im Sinne des Nachruhms hat er es geschafft – weshalb einem Bieter das Manuskript 378.000 Pfund wert war, umgerechnet 418.000 Euro. Die Auktion in London wirft ein neues Licht auf die dunkle, lang schamhaft verschwiegene Seite im Werk von Isaac Newton. Ja, wir wissen alle: Sir Isaac war das wohl größte Genie in der Geschichte der Naturwissenschaften. Mit seinen Gesetzen zu Bewegung und Gravitation hebt heute noch jedes Physiklehrbuch an. Er erfand die Infinitesimalrechnung, auch wenn sich das Kalkül seines Konkurrenten Leibniz letztlich durchsetzte. Aber was er uns zu Physik, Mathematik und Optik zu sagen hat, macht nur 30 Prozent seiner geistigen Hinterlassenschaft aus. Das
Gros der zehn Millionen Wörter bilden religiöse Erörterungen, in denen er vor allem die Lehre der Dreifaltigkeit widerlegen wollte. Dazu kommt Alchimistisches, meist aus anderen Schriften kopiert, samt Stichworten und Verweisen. Dahinter stand die Hoffnung, aus dem Geraune und Geschwurbel ließe sich eine zusammenhängende Lehre ableiten, Gold aus Tand filtern.
Keynes’ Urteil: „Der letzte Magier“
Das Irritierende daran: Newton glaubte ernsthaft, nicht seine physikalischen Entdeckungen, sondern die alchimistischen und theologischen Studien seien sein wesentlicher Beitrag zum Fortschritt der Menschheit – auch wenn dies vorerst nur wenige, von Gott Auserwählte einsehen konnten. Und durften. Denn der Cambridge-Professor hielt diese Schriften geheim. Seine Karriere stand auf dem Spiel, wenn nicht gar sein Leben. Eine Leugnung der dreifachen Gestalt Gottes galt als Häresie. Alchemisten landeten zuweilen am Galgen, mit güldenem Flitter beklebt – so sehr fürchtete man die inflationstreibende Verbreitung von Falschgold. Auch nach Newtons Tod hielten die Erben sein esoterisches Werk geheim. Erst 1936 wurde es publik, schon damals durch eine Auktion. Den Zuschlag erhielt John Maynard Keynes. Der berühmte Ökonom studierte den Schatz und kam zum Schluss: Newton „war nicht der erste Aufklärer, sondern der letzte Magier“.
Fernwirkung statt Äther
Ach, wie viel wertvolle Zeit hat das Genie auf Abwegen vergeudet! – will es uns entfahren. Aber so einfach ist es nicht. Wie viele Naturwissenschaftler war Newton nur als Junger genial (bei Philosophen ist es in der Regel umgekehrt). Mit 22 Jahren, in seinem „annus mirabilis“, als er sich vor der Pest in seinen Heimatort Woolsthorpe-by-Colsterworth geflüchtet hatte, überfielen ihn in groben Zügen all seine bahnbrechenden Ideen. Die letzten drei Dekaden seines Lebens spürte er nur noch als Meister der Münze Geldfälschern nach. Dazwischen feilte er an seinen Theorien, und dabei vermengte er strenge Wissenschaft, metaphysisches Grübeln und esoterische Träumereien zum untrennbaren Amalgam. Den Erdumfang etwa, den ihm die Tempelmaße liefern sollten, brauchte er, um das Wirken der Schwerkraft im gesamten Kosmos nachzuweisen. Die Vorstellung, dass eine immaterielle Kraft eine gesetzmäßige Fernwirkung auf passive Materie ausübt, stand quer zur damals gängigen Naturphilosophie: Sie nahm einen „Äther“oder ein „Fluidum“als Medium an, das auch die Planeten in ihren Bahnen hält. Aber das Gegenkonzept war spekulativer: die antike, in der Renaissance wiederbelebte Hermetik, die ihre „verborgenen Naturkräfte“der Anziehung und Abstoßung auch durch Alchemie und Zauberei zu erklären suchte.
Gegen die Dreifaltigkeit
Das Neue bei Newton war, dass er die Kräfte im Experiment quantifizierte und in mathematische Formeln fasste. Aber die offenbarten Weisheiten blieben für ihn gleichberechtigt. Und warum schrieb er als Theologe so verbissen gegen die Trinität an? Nur ein Gott in einer einzigen Gestalt kann als „Sinnesorgane“einen absoluten Raum und eine absolute Zeit aufspannen – relativ nur zum Schöpfer, nicht zu seinen Geschöpfen. Und diese Bühne des kosmischen Geschehens brauchte er für seine Mechanik, die noch heute Grundlage unseres Weltverständnisses wäre, hätte Einstein nicht an den Brettern gesägt.
So führen uns Newtons okkulte Schriften zurück in eine Zeit, in der Naturwissenschaft und Philosophie noch zusammenstimmen sollten. Wir haben die Bande zerschlagen, die Einflusssphären getrennt. Aber das funktioniert nicht. Schon logisch nicht (weil etwa der Primat, den die Physik als Basis alles Wissens beansprucht, von Annahmen ausgeht, die sie selbst nicht begründen kann). Und erst recht nicht existenziell: Weil wir Menschen uns nach einem Gesamtverständnis sehnen, nach einem Sinn, der sich nicht in mathematische Formeln packen lässt. Wir lachen darüber, dass ein Genie wie Newton nach dem Stein der Weisen suchte. Aber die Suche nach Weisheit bleibt auch uns nicht erspart.