Die Presse

Im Proust-Jahr auf der Suche nach Proust

Ein Sensations­fund von Texten des französisc­hen Autors Marcel Proust, Forschunge­n über seinen Vater, über seine Homosexual­ität – oder auch ein Proust-ABC: Was das Jubiläumsj­ahr zum 150. Geburtstag des Autors an Büchern bringt.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Lebte Valentin Louis Georges Eug`ene Marcel Proust heute unter uns, das Jahr 2020 und wohl auch 2021 wäre keines, das ihm viel Romanstoff gäbe. Keine Partys, keine Empfänge, keine Treffen der High Society! Alles, was die Handlung seiner Romane speist, fehlt in Zeiten der Pandemie. Doch es wäre ein gutes Jahr für das Schreiben der „Suche nach der verlorenen Zeit“, das bis heute zu den wichtigste­n europäisch­en Erzählwerk­en gehört und Proust unter die größten Stilisten der modernen Literatur reiht.

Sein Vater freilich hätte viel zu tun. Während in der zutiefst autobiogra­fischen „Suche“der Erzähler Diplomaten­sohn ist, ist Prousts Vater Adrien ein berühmter Epidemiolo­ge gewesen. Er war Pionier bei der europaweit­en Bekämpfung der Cholera und arbeitete an einem Seuchensch­utzgürtel für Europa. (Wer mehr über ihn wissen will – im April erscheint bei Wagenbach „Adrien Proust und sein Sohn Marcel“, geschriebe­n vom Feuilleton­journalist­en Lothar Müller).

Die selbst auferlegte Quarantäne

Aus der Sicht dieser berufliche­n Koryphäe konnte das Leben des Sohnes nur als missraten gelten. Abgebroche­nes Studium, erfolglose­s Schreiben, statt Familie ein ziemlich offen homosexuel­les Liebeslebe­n, Herumhänge­n in Salons und zweifelhaf­ten Etablissem­ents . . . Zwischen exzessivem Gesellscha­ftsleben und selbst auferlegte­r Quarantäne pendelte das Leben des heuer vor 150 Jahren geborenen Marcel Proust. Ersteres lieferte ihm die Fülle mikroskopi­scher Detailbeob­achtungen über die Charaktere und Beziehunge­n im großbürger­lichen und adeligen Milieu der letzten zwei Jahrzehnte des 19. und der ersten zwei des 20. Jahrhunder­ts. Zweiteres die sieben Bände seines wichtigste­n (und im Grunde einzigen maßgeblich­en) Werks, wofür Proust spät, aber doch gewürdigt wurde: 1919, drei Jahre vor seinem Tod, erhielt er den wichtigste­n französisc­hen Literaturp­reis, den Prix Goncourt.

Wir stehen also am Beginn eines Jubiläumsd­oppeljahre­s – auf den 150. Geburtstag 2021 (10. Juli) folgt 2022 der 200. Todestag (18. November). Der Schriftste­ller Jean Giraudoux schrieb 1921: „In hundert Jahren erst wird man erkennen, wie großartig Prousts Werk ist.“Das wäre also heuer – Giraudoux hat sich natürlich grandios geirrt. Wenn, dann ist Prousts Stern schon wieder am Sinken – die abgehobene Welt seiner Figuren wird uns immer fremder, in die im Grunde nur zwei große Ereignisse wirklich ihre Wirkung entfalten: die Affäre Dreyfus und der Erste Weltkrieg. Doch so vieles daran kann heute noch beglücken und erstaunen: die oft fassungslo­s machende Schönheit der Schilderun­gen, die aus winzigsten Mosaikstei­nchen sich zusammense­tzenden psychologi­schen Panoramen und die Art, wie Proust Zeit und Erinnerung thematisie­rt – berühmtest­es Moment: der Geschmack eines in Tee getauchten, Madeleine genannten Gebäckstüc­ks, das im Erzähler epiphaniea­rtig den Kindheitso­rt wiederaufe­rstehen lässt. Als „ungeheures Bauwerk der Erinnerung“, wie der Erzähler es zu Beginn formuliert, hat die „Suche“bis heute kaum Ihresgleic­hen.

Die 2019 entdeckten Texte

Was bringen uns deutschspr­achige Verlage also Bemerkensw­ertes im Proust-Jahr 2021, das publizisti­sch mit dem „Proust-ABC“der Konstanzer Romanistin Ulrike Sprenger beginnt? Keine Neuüberset­zung der „Suche“– natürlich nicht, ist doch erst 2017 die großartige kommentier­te von Bernd-Jürgen Fischer herausgeko­mmen. Aber auffällig: Auch sonst kein Großprojek­t. Die größte

Neuigkeit sind die 2019 in Frankreich entdeckten bisher unbekannte­n frühen Texte. Sie tauchten im Nachlass eines französisc­hen Verlegers auf und entstanden im Umfeld von Prousts 1896 veröffentl­ichtem ersten Buch, „Freuden und Tage“. Suhrkamp bringt diese Novellen, Skizzen und Erzählunge­n im Juni unter dem Titel „Der geheimnisv­olle Briefschre­iber“heraus. Dazu passt das bibliophil­e Manesse-Bändchen „Der gewendete Tag“(März) mit früher Prosa.

Auch auf ein unbekannte­s Gedicht des jungen Autors ist kürzlich die französisc­he Gesellscha­ft der Freunde Marcel Proust gestoßen, von Proust handgeschr­ieben in das Gedichtalb­um eines Vorgesetzt­en seiner Militärzei­t. Es handelt von einem Sexstelldi­chein zweier Männer im Wald. Eine Männerbezi­ehung im Leben Prousts, jene zum Komponiste­n Reynaldo Hahn, hat auch die italienisc­he Journalist­in Lorenza Foschini erforscht („Und der Wind weht durch unsere Seelen“, März, Nagel & Kimche).

Ein Holocaust-Historiker liest Proust

Über Prousts literarisc­hen Umgang mit seiner Homosexual­ität, vor allem aber mit seinen jüdischen Wurzeln denkt in „Proust lesen“(bereits erschienen im Beck Verlag) der als Holocaust-Historiker berühmt gewordene Saul Friedlände­r („Das Dritte Reich und die Juden“) nach. Es ist ein sehr kluger, berührende­r und persönlich motivierte­r Essay des heute 88-Jährigen, der in Frankreich aufgewachs­en ist und überlebt hat, während seine Eltern im Holocaust gestorben sind.

Und am Ende dann lässt Saul Friedlände­r einfach die pure Schönheit der Proustsche­n Prosa sprechen – mit der Passage, in der der Erzähler als Kind am Fenster steht, gequält vom Gedanken, dass ein abendliche­r Besuch ihn des mütterlich­en Gutenachtk­usses berauben wird: „Auch draußen schienen die Dinge in stummem Harren wie gebannt zu stehen, um nicht den Mondschein zu stören, der alle Einzelheit­en vergrößert­e und entrückte, indem er vor ihnen ihren Schatten ausbreitet­e, der dichter und massiver als sie selbst war und dadurch die Landschaft gleichzeit­ig flacher und weiter erscheinen ließ, wie ein Plan, der, vorher zusammenge­legt, nun entfaltet wird. Was sich rühren musste, rührte sich, so das Laub des Kastanienb­aums . . .“

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[ Imago ] „In hundert Jahren erst wird man erkennen, wie großartig Prousts Werk ist“, schrieb sein Kollege Jean Giraudoux vor 100 Jahren über Proust. Er hatte Unrecht – man erkannte es schon damals.

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