Die wahre Kunst ist, sich auch die Kunst zurechtzubiegen
In Zeiten des Lockdowns wird der Musikfreund via Livestream und Rundfunkübertragung mit kulturellen Grundsatzfragen konfrontiert.
Schubert ist modern, Schönberg klingt schon recht altmodisch.
Die sprichwörtliche Wiener Gemütlichkeit entfaltet ihre nachhaltigste Wirkung stets, wenn es darum geht, sich unangenehme Sachen zurechtzubiegen. Was da einmal seine approbierte Form gefunden hat, findet seine ursprüngliche Gestalt nicht leicht wieder.
So konnte einst ein Franz Schubert zum Meister der BiedermeierIdylle werden. Es hat Generationen gebraucht, bis man allgemein zur Kenntnis genommen hat, dass ein Lied wie der „Lindenbaum“auch eine höchst unangenehme Strophe hat, in der dem Wandersmann der eisige Wind ins Gesicht und ihm den Hut vom Kopfe bläst.
Diese Strophe hat man in der Liedertafel-Version einfach weggelassen.
Heute weiß man um die finsteren Kammern in der vormärzlichen Seele. So dürfen sich auch aufgeklärte zeitgenössische Kulturschaffende ohne Scheu der Musik dieses Komponisten nähern, ohne gescholten zu werden. Sie können dabei für sich und ihr Publikum die erstaunlichsten Entdeckungen machen.
Franui, die 1993 gegründete Osttiroler Gruppe, hat über Umwege auch längst ihren Schubert gefunden. So einfach wie bei Haydn oder Mahler war es zwar nicht, die volksmusikalischen Wurzeln in der Symphonik freizulegen, aber in Sachen Liedermacherei gelangen üppige Funde, die halfen, den Franzl aus dem Dreimäderlhaus ins Hier und Heute zu holen.
In Ö1 kann man im MontagAbendprogramm nachhören, wie das zehnköpfige Ensemble um den Trompeter Andreas Schett im Verein mit dem Wienerlied-Duo „Die Strottern“Schuberts Klänge nach ihren Grundeigenschaften hinterfragt hat.
Der Livemitschnitt der „Schubertiade“vom Kremser Festival „Glatt & Verkehrt“spannte den Bogen von der „schönen Müllerin“bis zur wienerischen Version eines Liedes von Tom Waits – und die gedankliche Klammer sitzt insofern fest, als Schubert selbst einst mit nicht gerade einschmeichelnder Stimme seinen Freunden Dinge vorgesungen hat, die er selbst als „schauerliche Lieder“bezeichnete.
Irgendwie sind wir ja alle immer auf der Suche nach der Wahrheit. Wir dürfen auch im Lockdown dank all den medialen Möglichkeiten, die uns gegeben sind, am kommenden Sonntag gleich weiterforschen. Da überträgt die Streaming-Plattform myfidelio.at um 11 Uhr aus dem Wiener Musikverein das philharmonische Abonnementkonzert unter Philippe Jordan.
Der neue Musikchef der Staatsoper, der inoffiziell ja auch so etwas wie der Chefdirigent der Philharmoniker ist, obwohl diese nominell keinen Chefdirigenten haben, hat sich für seinen Einstand – wie das Neujahrskonzert ohne Publikum, aber vor laufenden Fernsehkameras – Richard Strauss’ „Alpensymphonie“ausgesucht, aber mit Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“auch ein Stück, das zwar von Anbeginn philharmonisch betreut wurde – die Uraufführung musizierte einst Konzertmeister Arnold Rose´ mit Orchesterkollegen –, aber zunächst als Kakophonie abgelehnt wurde, weil es angeblich gegen alle Regeln verstieß (man hatte in der Partitur die unerlaubte Umkehrung eines Nonenakkords entdeckt!).
Heutige Ohren haben sich diese Umkehrung längst geradegebogen und genießen unbeschwert die Farbenpracht dieser Klänge – während sie von Schuberts Harmonien schon wieder beunruhigt werden.
Das gilt übrigens vermutlich nicht einmal nur fürs alles verbiegende „Weaner Gmüat“. . .