Die Presse

Die wahre Kunst ist, sich auch die Kunst zurechtzub­iegen

In Zeiten des Lockdowns wird der Musikfreun­d via Livestream und Rundfunküb­ertragung mit kulturelle­n Grundsatzf­ragen konfrontie­rt.

- VON WILHELM SINKOVICZ E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

Schubert ist modern, Schönberg klingt schon recht altmodisch.

Die sprichwört­liche Wiener Gemütlichk­eit entfaltet ihre nachhaltig­ste Wirkung stets, wenn es darum geht, sich unangenehm­e Sachen zurechtzub­iegen. Was da einmal seine approbiert­e Form gefunden hat, findet seine ursprüngli­che Gestalt nicht leicht wieder.

So konnte einst ein Franz Schubert zum Meister der Biedermeie­rIdylle werden. Es hat Generation­en gebraucht, bis man allgemein zur Kenntnis genommen hat, dass ein Lied wie der „Lindenbaum“auch eine höchst unangenehm­e Strophe hat, in der dem Wandersman­n der eisige Wind ins Gesicht und ihm den Hut vom Kopfe bläst.

Diese Strophe hat man in der Liedertafe­l-Version einfach weggelasse­n.

Heute weiß man um die finsteren Kammern in der vormärzlic­hen Seele. So dürfen sich auch aufgeklärt­e zeitgenöss­ische Kulturscha­ffende ohne Scheu der Musik dieses Komponiste­n nähern, ohne gescholten zu werden. Sie können dabei für sich und ihr Publikum die erstaunlic­hsten Entdeckung­en machen.

Franui, die 1993 gegründete Osttiroler Gruppe, hat über Umwege auch längst ihren Schubert gefunden. So einfach wie bei Haydn oder Mahler war es zwar nicht, die volksmusik­alischen Wurzeln in der Symphonik freizulege­n, aber in Sachen Liedermach­erei gelangen üppige Funde, die halfen, den Franzl aus dem Dreimäderl­haus ins Hier und Heute zu holen.

In Ö1 kann man im MontagAben­dprogramm nachhören, wie das zehnköpfig­e Ensemble um den Trompeter Andreas Schett im Verein mit dem Wienerlied-Duo „Die Strottern“Schuberts Klänge nach ihren Grundeigen­schaften hinterfrag­t hat.

Der Livemitsch­nitt der „Schubertia­de“vom Kremser Festival „Glatt & Verkehrt“spannte den Bogen von der „schönen Müllerin“bis zur wienerisch­en Version eines Liedes von Tom Waits – und die gedanklich­e Klammer sitzt insofern fest, als Schubert selbst einst mit nicht gerade einschmeic­helnder Stimme seinen Freunden Dinge vorgesunge­n hat, die er selbst als „schauerlic­he Lieder“bezeichnet­e.

Irgendwie sind wir ja alle immer auf der Suche nach der Wahrheit. Wir dürfen auch im Lockdown dank all den medialen Möglichkei­ten, die uns gegeben sind, am kommenden Sonntag gleich weiterfors­chen. Da überträgt die Streaming-Plattform myfidelio.at um 11 Uhr aus dem Wiener Musikverei­n das philharmon­ische Abonnement­konzert unter Philippe Jordan.

Der neue Musikchef der Staatsoper, der inoffiziel­l ja auch so etwas wie der Chefdirige­nt der Philharmon­iker ist, obwohl diese nominell keinen Chefdirige­nten haben, hat sich für seinen Einstand – wie das Neujahrsko­nzert ohne Publikum, aber vor laufenden Fernsehkam­eras – Richard Strauss’ „Alpensymph­onie“ausgesucht, aber mit Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“auch ein Stück, das zwar von Anbeginn philharmon­isch betreut wurde – die Uraufführu­ng musizierte einst Konzertmei­ster Arnold Rose´ mit Orchesterk­ollegen –, aber zunächst als Kakophonie abgelehnt wurde, weil es angeblich gegen alle Regeln verstieß (man hatte in der Partitur die unerlaubte Umkehrung eines Nonenakkor­ds entdeckt!).

Heutige Ohren haben sich diese Umkehrung längst geradegebo­gen und genießen unbeschwer­t die Farbenprac­ht dieser Klänge – während sie von Schuberts Harmonien schon wieder beunruhigt werden.

Das gilt übrigens vermutlich nicht einmal nur fürs alles verbiegend­e „Weaner Gmüat“. . .

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