Die wahre amerikanische Versöhnung steht aus
Gastkommentar. Die nationalistische Ideologie des Amerikanischen Exzeptionalismus ist eine Gefahr für die Demokratie in den USA.
Ein Bild, das um die Welt ging: Ein weißer männlicher Aufrührer schwenkt unbehindert die “Stars and Bars”, die Kriegsflagge der Konföderierten Staaten von Amerika, ein paar Schritte entfernt vom Heiligtum der US-Demokratie, dem ehrwürdigen Sitzungssaal des Senats, wo an jenem denkwürdigen Tag vergangene Woche Joe Bidens Wahlsieg durch den Kongress bestätigt hätte werden sollen.
Die Fahne ist historisch betrachtet ein Symbol der Unterdrückung und des Todes. Die Konföderation kämpfte während des Bürgerkriegs für die Erhaltung der Sklaverei; kein anderes politisches Regime ist für das Sterben von mehr amerikanischen Soldaten verantwortlich. Für den Mob, der das Kapitol in Washington stürmte, ist die Flagge hingegen ein Symbol der persönlichen Freiheit. Woher kommt diese zwiespältige Interpretation? Eine Erklärung hierfür ist die nationalistische Ideologie des Amerikanischen Exzeptionalismus. Jene Weltanschauung räumt den Vereinigten Staaten eine politische und moralische Sonderstellung in der Staatengemeinschaft ein. Amerika ist nicht nur ein Land, sondern vielmehr ein utopisches Ideal.
„Die letzte beste Hoffnung“
Am besten zusammenfassen lässt sich dieses Gedankengut mit den Worten Abraham Lincolns von 1862, der meinte, Amerika sei “die letzte beste Hoffnung der Welt”. Im selben Geist sagte die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright 1998: “Wir sind die unverzichtbare Nation ... Wir sehen weiter in die Zukunft.” Unterstrichen wird jene Ideologie von den Worten der Unabhängigkeitserklärung: “Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden.” Die gesamte amerikanische Geschichte wird in diesem Sinne als Kampf interpretiert, diesem
Ideal zu entsprechen. Zuerst die Revolution (1175–1783), dann der Bürgerkrieg (1861–1865) gefolgt vom Ende der Rassentrennung (1964). Martin Luther King Jr. spiegelte dieses Sentiment so wider: “Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu.” Gemäß dieser Interpretation der Geschichte fiel es dem designierten 46. amerikanischen Präsidenten, Joe Biden, leicht, im Angesicht des versuchten Aufstands und konföderierten Kriegsflaggen zu betonen: “Das ist nicht Amerika.”
Doch Aufstände und die Konföderation waren und sind Amerika. Biden, wie alle Anhänger der Exzeptionalismus-Ideologie, nimmt hier bewusst eine Glättung der amerikanischen Geschichte in Kauf. In dieser Interpretation sind der Bürgerkrieg und die Konföderierten Sklavenstaaten nicht das wahre Wesen Amerikas, vielmehr waren sie historische Irrwege auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft und Politik. Im Ge
genteil, der Bruderkrieg löste eine nationale Versöhnung und ein neues Gefühl der Einigkeit aus. “Wir sind alle Amerikaner” soll ein Offizier der Union (USA) dem besiegten konföderierten General, Robert E. Lee, bei seiner Kapitulation 1865 gesagt haben. Mit dieser Aussage wurden aber bereits damals die Kriegsziele der Konföderation legitimiert.
Der nationalen Einheit zuliebe wurden den ehemaligen Konföderierten Staaten mehrere Zugeständnisse gemacht. Sie führten dann auch in den 1870ern eine De-facto-Sklaverei und Rassentrennung in elf Bundesstaaten wieder ein. Vor allem wurde aber eine konföderierte Interpretation des Konflikts, die den Bürgerkrieg als eine zweite amerikanische Revolution gegen Tyrannei deutete und nicht als Kampf zur Erhaltung der Sklaverei (bekannt in der Geschichtschreibung als der “Mythos der Verlorenen Sache”), national akzeptiert. Das Resultat: Konföderierte Kriegshelden und deren Flagge wurden von vielen Amerikanern als Symbole der Freiheit angesehen. Gleichzeitig musste dadurch ein Großteil der weißen Bevölkerung in den ehemaligen konföderierten Staaten niemals den Ausgang des Kriegs akzeptieren. Im Geiste des Amerikanischen Exzeptionalismus, der auf nationale Versöhnung und den von Martin Luther King Jr. formulierten Fortschrittsgedanken setzte, blieb diese Interpretation bis vor wenigen Jahren unangefochten.
Der Sturm auf das Kapitol vergangene Woche war ein deutliches Zeichen, dass diese Interpretation ausgedient hat und eine wahre nationale Versöhnung nach wie vor aussteht. Auch schleicht sich der Gedanke ein, dass vielleicht gerade die Neigung zur politischen Gewalt und inneren Auseinandersetzungen die USA exzeptionell macht. Wenn man zum Beispiel die Bilder des Mannes mit der konföderierten Flagge von voriger Woche genauer betrachtet, sieht man im Hintergrund das Gemälde des republikanischen Senators Charles Sumner, eines vehementen Gegners der Sklaverei. 1856 wurde er im Sitzungssaal des Senats von dem demokratischen Kongressabgeordneten, Preston Brooks, einem Verfechter der Sklaverei, mit einem Gehstock fast zu Tode geprügelt. „Die Nation, die unter einem Zusammenbruch von vernünftigen Diskurs, den dieses Ereignis symbolisiert, litt, taumelte weiter in die Katastrophe des Bürgerkriegs”, steht auf der Webseite des Senats zu dieser Auseinandersetzung geschrieben.
Im gleichen Saal (und auch auf den Bildern zu sehen) hängt ein Bild von Senator John C. Calhoun, eines Sklaverei-Befürworters und ideologischen Wegbereiters der Konföderation. Nur der Glaube an den Exzeptionalismus erlaubt ein Bild eines Mannes, der eine hoch verräterische Ideologie predigte, die die USA im 19. Jahrhundert fast zerstörte, ins Zentrum der US–Demokratie zu hängen.
Ein fragiles Experiment
Die große Gefahr eines Festhaltens am Amerikanischen Exzeptionalismus heutzutage ist der Irrglaube, dass demokratischer und moralischer Fortschritt in den USA vorprogrammiert ist, und dass das Land immun gegen Illiberalismus, anti-demokratische Tendenzen und konföderiertes Gedankengut in neuer Verkleidung ist.
Die Ereignisse letzter Woche sollten Joe Biden und andere Verfechter dieser Ideologie eines Besseren belehren. Die amerikanische Demokratie ist und bleibt ein fragiles Experiment. Wie Abraham Lincoln schon 1838 meinte: “Wenn der Untergang unser Schicksal sein sollte, werden wir selbst dessen Autor und Vollender sein.”
Lincoln war auch Zeuge, als zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte beinahe eine konföderierte Flagge in das Kapitol eingezogen wäre. Im Jahre 1864 griff der konföderierte General Jubal Early Washington an. Er wurde von Truppen der Union außerhalb der Stadt gestoppt. Lincoln wohnte dem Kampf bei und ist bis dato der einzige Präsident, der während seiner Amtszeit unter feindlichem Beschuss stand. Ein Unionssoldat schrieb damals in sein Tagebuch, dass der Angriff danebenging, weil die Konföderierten zu spät angriffen: “Early was late”, schrieb er höhnisch nieder.
Im Geiste des Exzeptionalismus aber zu vertrauen, dass man illiberale Kräfte innerhalb der USA abwehren kann, weil der geschichtliche Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte sie einfach nicht zulassen würde, wäre 2021 allzu leichtfertig.