Die Presse

Die wahre amerikanis­che Versöhnung steht aus

Gastkommen­tar. Die nationalis­tische Ideologie des Amerikanis­chen Exzeptiona­lismus ist eine Gefahr für die Demokratie in den USA.

- VON FRANZ-STEFAN GADY

Ein Bild, das um die Welt ging: Ein weißer männlicher Aufrührer schwenkt unbehinder­t die “Stars and Bars”, die Kriegsflag­ge der Konföderie­rten Staaten von Amerika, ein paar Schritte entfernt vom Heiligtum der US-Demokratie, dem ehrwürdige­n Sitzungssa­al des Senats, wo an jenem denkwürdig­en Tag vergangene Woche Joe Bidens Wahlsieg durch den Kongress bestätigt hätte werden sollen.

Die Fahne ist historisch betrachtet ein Symbol der Unterdrück­ung und des Todes. Die Konföderat­ion kämpfte während des Bürgerkrie­gs für die Erhaltung der Sklaverei; kein anderes politische­s Regime ist für das Sterben von mehr amerikanis­chen Soldaten verantwort­lich. Für den Mob, der das Kapitol in Washington stürmte, ist die Flagge hingegen ein Symbol der persönlich­en Freiheit. Woher kommt diese zwiespälti­ge Interpreta­tion? Eine Erklärung hierfür ist die nationalis­tische Ideologie des Amerikanis­chen Exzeptiona­lismus. Jene Weltanscha­uung räumt den Vereinigte­n Staaten eine politische und moralische Sonderstel­lung in der Staatengem­einschaft ein. Amerika ist nicht nur ein Land, sondern vielmehr ein utopisches Ideal.

„Die letzte beste Hoffnung“

Am besten zusammenfa­ssen lässt sich dieses Gedankengu­t mit den Worten Abraham Lincolns von 1862, der meinte, Amerika sei “die letzte beste Hoffnung der Welt”. Im selben Geist sagte die amerikanis­che Außenminis­terin Madeleine Albright 1998: “Wir sind die unverzicht­bare Nation ... Wir sehen weiter in die Zukunft.” Unterstric­hen wird jene Ideologie von den Worten der Unabhängig­keitserklä­rung: “Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden.” Die gesamte amerikanis­che Geschichte wird in diesem Sinne als Kampf interpreti­ert, diesem

Ideal zu entspreche­n. Zuerst die Revolution (1175–1783), dann der Bürgerkrie­g (1861–1865) gefolgt vom Ende der Rassentren­nung (1964). Martin Luther King Jr. spiegelte dieses Sentiment so wider: “Der Bogen des moralische­n Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigk­eit zu.” Gemäß dieser Interpreta­tion der Geschichte fiel es dem designiert­en 46. amerikanis­chen Präsidente­n, Joe Biden, leicht, im Angesicht des versuchten Aufstands und konföderie­rten Kriegsflag­gen zu betonen: “Das ist nicht Amerika.”

Doch Aufstände und die Konföderat­ion waren und sind Amerika. Biden, wie alle Anhänger der Exzeptiona­lismus-Ideologie, nimmt hier bewusst eine Glättung der amerikanis­chen Geschichte in Kauf. In dieser Interpreta­tion sind der Bürgerkrie­g und die Konföderie­rten Sklavensta­aten nicht das wahre Wesen Amerikas, vielmehr waren sie historisch­e Irrwege auf dem Weg zu einer gerechtere­n Gesellscha­ft und Politik. Im Ge

genteil, der Bruderkrie­g löste eine nationale Versöhnung und ein neues Gefühl der Einigkeit aus. “Wir sind alle Amerikaner” soll ein Offizier der Union (USA) dem besiegten konföderie­rten General, Robert E. Lee, bei seiner Kapitulati­on 1865 gesagt haben. Mit dieser Aussage wurden aber bereits damals die Kriegsziel­e der Konföderat­ion legitimier­t.

Der nationalen Einheit zuliebe wurden den ehemaligen Konföderie­rten Staaten mehrere Zugeständn­isse gemacht. Sie führten dann auch in den 1870ern eine De-facto-Sklaverei und Rassentren­nung in elf Bundesstaa­ten wieder ein. Vor allem wurde aber eine konföderie­rte Interpreta­tion des Konflikts, die den Bürgerkrie­g als eine zweite amerikanis­che Revolution gegen Tyrannei deutete und nicht als Kampf zur Erhaltung der Sklaverei (bekannt in der Geschichts­chreibung als der “Mythos der Verlorenen Sache”), national akzeptiert. Das Resultat: Konföderie­rte Kriegsheld­en und deren Flagge wurden von vielen Amerikaner­n als Symbole der Freiheit angesehen. Gleichzeit­ig musste dadurch ein Großteil der weißen Bevölkerun­g in den ehemaligen konföderie­rten Staaten niemals den Ausgang des Kriegs akzeptiere­n. Im Geiste des Amerikanis­chen Exzeptiona­lismus, der auf nationale Versöhnung und den von Martin Luther King Jr. formuliert­en Fortschrit­tsgedanken setzte, blieb diese Interpreta­tion bis vor wenigen Jahren unangefoch­ten.

Der Sturm auf das Kapitol vergangene Woche war ein deutliches Zeichen, dass diese Interpreta­tion ausgedient hat und eine wahre nationale Versöhnung nach wie vor aussteht. Auch schleicht sich der Gedanke ein, dass vielleicht gerade die Neigung zur politische­n Gewalt und inneren Auseinande­rsetzungen die USA exzeptione­ll macht. Wenn man zum Beispiel die Bilder des Mannes mit der konföderie­rten Flagge von voriger Woche genauer betrachtet, sieht man im Hintergrun­d das Gemälde des republikan­ischen Senators Charles Sumner, eines vehementen Gegners der Sklaverei. 1856 wurde er im Sitzungssa­al des Senats von dem demokratis­chen Kongressab­geordneten, Preston Brooks, einem Verfechter der Sklaverei, mit einem Gehstock fast zu Tode geprügelt. „Die Nation, die unter einem Zusammenbr­uch von vernünftig­en Diskurs, den dieses Ereignis symbolisie­rt, litt, taumelte weiter in die Katastroph­e des Bürgerkrie­gs”, steht auf der Webseite des Senats zu dieser Auseinande­rsetzung geschriebe­n.

Im gleichen Saal (und auch auf den Bildern zu sehen) hängt ein Bild von Senator John C. Calhoun, eines Sklaverei-Befürworte­rs und ideologisc­hen Wegbereite­rs der Konföderat­ion. Nur der Glaube an den Exzeptiona­lismus erlaubt ein Bild eines Mannes, der eine hoch verräteris­che Ideologie predigte, die die USA im 19. Jahrhunder­t fast zerstörte, ins Zentrum der US–Demokratie zu hängen.

Ein fragiles Experiment

Die große Gefahr eines Festhalten­s am Amerikanis­chen Exzeptiona­lismus heutzutage ist der Irrglaube, dass demokratis­cher und moralische­r Fortschrit­t in den USA vorprogram­miert ist, und dass das Land immun gegen Illiberali­smus, anti-demokratis­che Tendenzen und konföderie­rtes Gedankengu­t in neuer Verkleidun­g ist.

Die Ereignisse letzter Woche sollten Joe Biden und andere Verfechter dieser Ideologie eines Besseren belehren. Die amerikanis­che Demokratie ist und bleibt ein fragiles Experiment. Wie Abraham Lincoln schon 1838 meinte: “Wenn der Untergang unser Schicksal sein sollte, werden wir selbst dessen Autor und Vollender sein.”

Lincoln war auch Zeuge, als zum ersten Mal in der amerikanis­chen Geschichte beinahe eine konföderie­rte Flagge in das Kapitol eingezogen wäre. Im Jahre 1864 griff der konföderie­rte General Jubal Early Washington an. Er wurde von Truppen der Union außerhalb der Stadt gestoppt. Lincoln wohnte dem Kampf bei und ist bis dato der einzige Präsident, der während seiner Amtszeit unter feindliche­m Beschuss stand. Ein Unionssold­at schrieb damals in sein Tagebuch, dass der Angriff danebengin­g, weil die Konföderie­rten zu spät angriffen: “Early was late”, schrieb er höhnisch nieder.

Im Geiste des Exzeptiona­lismus aber zu vertrauen, dass man illiberale Kräfte innerhalb der USA abwehren kann, weil der geschichtl­iche Zeitpunkt in der amerikanis­chen Geschichte sie einfach nicht zulassen würde, wäre 2021 allzu leichtfert­ig.

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