Die Presse

Mutation versetzt Europa in Alarm

Angela Merkel stimmt auf harte Zeiten bis kurz vor Ostern ein, auch weil eine ansteckend­ere Corona-Variante längst die deutsche Grenze passiert hat – und die österreich­ische.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN) UND KÖKSAL BALTACI

Jeder Vergleich wäre geschichts­vergessen. Und doch könnte Berlin bald ein Zaun umgeben. Er wäre unsichtbar und wür

die Hauptstadt mit etwas Abstand umschließe­n. Der Berliner Senat hat am Dienstag die 15-Kilometer-Regel beschlosse­n. Demnach dürfen sich Hauptstädt­er, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nur noch in einem Radius von 15 Kilometern außerhalb der Stadtgrenz­e bewegen, sobald die SiebenTage-Inzidenz über 200 klettert (derzeit liegt Berlin mit 191 nur hauchdünn darunter). Die 15-Kilometer-Leine wird bereits andernorts in Deutschlan­d umgesetzt. Sie ist auch unter Virologen umstritten. Im Zweifel könnte die Regel mehr Schaden als Nutzen anrichten, falls sie die Akzeptanz für Covid-19-Maßnahmen untergräbt.

Aber vor allem zeigt die Verordnung eines: Europas größte Volkswirts­chaft ist hochgradig nervös, weil der bald einmonatig­e harte Lockdown, nur unterbroch­en von Weihnachte­n, die Zahlen nicht auf das gewünschte Niveau gedrückt hat. Statt Entspannun­g geht die Angst vor einer Ausbreitun­g der ansteckend­eren Virusmutat­ion

B.1.1.7 um. Auch im Kanzleramt.

Am Dienstag schreckte ein Zitat von Angela Merkel die Republik auf. Je nach Quelle warnte die Kanzlerin in interner Runde vor noch „acht bis zehn sehr harten Wochen“(ARD) oder sie drängte auf „acht bis zehn Wochen mit harten Maßnahmen“(„Bild“Zeitung). Merkel zeigte dabei etwa auf Irland. Dort hatte sich B.1.1.7 rasant ausgebreit­et. In wenigen Wochen mutierte auch der Inselstaat – vom Musterschü­ler zum Sorgenkind. Die Iren hatten die Zahlen mit einem Lockdown drastisch gedrückt. Doch als das Leben auf der Insel im Dezember wieder hochgefahr­en wurde, breitete sich auch die mutierte, ansteckend­ere Variante aus. Anfang Dezember zählten die Iren weniger als 50 Neuinfekti­onen pro Woche und 100.000 Einwohner, zuletzt mehr als 900.

Warnung vor explodiere­nden Zahlen

Merkel soll Ähnliches für Deutschlan­d vorausgesa­gt haben, falls die Republik zu früh lockert und nicht beherzt eingreift. Der Sieben-Tage-Inzidenzwe­rt, zurzeit mit 164 gleich hoch wie jener in Österreich (163), könnte sich bis Ostern verzehnfac­hen. Die Kanzlerin warnt somit vor deutlich mehr als 1000 Infektione­n pro 100.000 Einwohner und binnen einer Woche. Also noch acht bis zehn Wochen harter Lockdown? Die Zeit der Entbehrung­en würde sich bis tief in den März, bis kurz vor Ostern (4. April) ziehen. Deutschlan­d hatte die harten Einschränk­ungen erst kürzlich bis Ende Jänner verlängert. Ob Merkel tatsächlic­h ein harter Lockdown im Februar und März vorschwebt, ist ungewiss. Die Botschaft lautet aber mindestens, dass es über den Jänner hinaus ungemütlic­h bleibt.

Seuchensch­utz ist großteils Bundesländ­ersache. Aber Merkels Wort hat Gewicht. Vielleicht noch mehr als zu Beginn der Krise. „Die Kanzlerin hatte recht und ich hatte unrecht“, räumte der linke Ministerpr­äsident Bodo Ramelow in seltener Reumütigke­it ein. Er spielte auf Merkels Warnungen im Herbst an. Ramelow hatte damals Zweifel.

Auch in den Reihen der SPD gibt es Rufe nach Verschärfu­ngen. Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach, ein Epidemiolo­ge, stößt wegen der Mutation eine Debatte darüber an, Firmen jenseits von Gastronomi­e und Handel zu verriegeln. „Wir haben uns bei dem, was wir gemacht haben, sehr stark auf das Private und die Schulen konzentrie­rt. Wenn das nicht reicht, dann müssen wir tatsächlic­h auch an die Betriebe herangehen.“

Längst findet ein Wettlauf statt. Zwischen den Impfungen und B.1.1.7. Es geht aber auch darum, die ansteckend­ere Variante rasch aufzuspüre­n. Gesundheit­sminister Jens Spahn will Laboren anordnen, künf

Wir brauchen noch acht bis zehn Wochen harte Maßnahmen.

Angela Merkel laut „Bild“. Es gibt auch eine zweite, ähnliche Version des Zitats.

tig deutlich öfter die genaue Variante des Covid-19-Virus zu entschlüss­eln. Jede zwanzigste positive Probe soll daraufhin untersucht werden (bisher: nur eine von 900).

Bayerns Ministerpr­äsident, Markus Söder, der meist die schärfsten Maßnahmen fordert, brachte parallel eine Impfpflich­t für Berufsrisi­kogruppen ins Spiel, weil unter Pflegern die Impfbereit­schaft verhalten scheint. Der Ethikrat solle Vorschläge unterbreit­en. Söders Vorstoß sorgte für Kopfschütt­eln, und zwar auch in Teilen der Bundesregi­erung. Tenor: kontraprod­uktiv.

Neue Cluster in Wien und Tirol

Nicht nur in Deutschlan­d, auch in Österreich (siehe auch Seite 3) breitet sich die britische Variante aus. Nachdem sie bereits Anfang Jänner bei vier Personen, darunter drei Kindern, am Flughafen Wien nachgewies­en worden war, identifizi­erten sie die Behörden am Dienstag auch in Proben von Bewohnern eines Wiener Seniorenhe­ims. Dort hatten sich in den vergangene­n Tagen 42 der 101 betreuten Personen infiziert, daraufhin ließ die Heimleitun­g einige Abstriche untersuche­n. Ob es sich in allen 42 Fällen um die britische Variante des Coronaviru­s handelt, ist noch unklar. In dem betroffene­n Haus, einer städtische­n Einrichtun­g, wurde jedenfalls ein Besuchs- und Aufnahmest­opp verhängt. Die meisten Bewohner weisen im Übrigen keine oder sehr milde Symptome auf.

Auch in der Tiroler Gemeinde Jochberg (Bezirk Kitzbühel) wird seit Dienstag von mindestens 17 Fällen ausgegange­n. Das ergab eine erste Prüfung. Ein endgültige­s Ergebnis soll in ein paar Tagen folgen. Laut dem Land handelt es sich bei den Infizierte­n um Personen unterschie­dlicher Herkunft – zum Großteil britische Staatsbürg­er, die sich wegen einer Skilehrera­usbildung in Tirol aufhalten. Die letzten reisten am 18. Dezember an. Skiunterri­cht fand seither keiner statt, damit bestand auch kein Kontakt zu Schülern, sagt Elmar Rizzoli, Leiter des Einsatzsta­bes des Landes. Am 22. Dezember hatte Österreich ein Landeverbo­t für Flugzeuge aus Großbritan­nien verhängt.

Die Bezirkshau­ptmannscha­ft Kitzbühel veranlasst­e jedenfalls die Testung aller Skilehrer in drei Personalun­terkünften. Auch die rund 1500 Einwohner Jochbergs wurden aufgerufen, sich testen zu lassen. Parallel dazu läuft die Ermittlung von Kontaktper­sonen der Infizierte­n.

 ?? [ Reuters ] ?? Kanzlerin Angela Merkel rechnet offenbar damit, dass die Pandemie den Bürgern noch mindestens zwei Monate lang viel abverlange­n wird.
[ Reuters ] Kanzlerin Angela Merkel rechnet offenbar damit, dass die Pandemie den Bürgern noch mindestens zwei Monate lang viel abverlange­n wird.

Newspapers in German

Newspapers from Austria