Mutation versetzt Europa in Alarm
Angela Merkel stimmt auf harte Zeiten bis kurz vor Ostern ein, auch weil eine ansteckendere Corona-Variante längst die deutsche Grenze passiert hat – und die österreichische.
Jeder Vergleich wäre geschichtsvergessen. Und doch könnte Berlin bald ein Zaun umgeben. Er wäre unsichtbar und wür
die Hauptstadt mit etwas Abstand umschließen. Der Berliner Senat hat am Dienstag die 15-Kilometer-Regel beschlossen. Demnach dürfen sich Hauptstädter, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nur noch in einem Radius von 15 Kilometern außerhalb der Stadtgrenze bewegen, sobald die SiebenTage-Inzidenz über 200 klettert (derzeit liegt Berlin mit 191 nur hauchdünn darunter). Die 15-Kilometer-Leine wird bereits andernorts in Deutschland umgesetzt. Sie ist auch unter Virologen umstritten. Im Zweifel könnte die Regel mehr Schaden als Nutzen anrichten, falls sie die Akzeptanz für Covid-19-Maßnahmen untergräbt.
Aber vor allem zeigt die Verordnung eines: Europas größte Volkswirtschaft ist hochgradig nervös, weil der bald einmonatige harte Lockdown, nur unterbrochen von Weihnachten, die Zahlen nicht auf das gewünschte Niveau gedrückt hat. Statt Entspannung geht die Angst vor einer Ausbreitung der ansteckenderen Virusmutation
B.1.1.7 um. Auch im Kanzleramt.
Am Dienstag schreckte ein Zitat von Angela Merkel die Republik auf. Je nach Quelle warnte die Kanzlerin in interner Runde vor noch „acht bis zehn sehr harten Wochen“(ARD) oder sie drängte auf „acht bis zehn Wochen mit harten Maßnahmen“(„Bild“Zeitung). Merkel zeigte dabei etwa auf Irland. Dort hatte sich B.1.1.7 rasant ausgebreitet. In wenigen Wochen mutierte auch der Inselstaat – vom Musterschüler zum Sorgenkind. Die Iren hatten die Zahlen mit einem Lockdown drastisch gedrückt. Doch als das Leben auf der Insel im Dezember wieder hochgefahren wurde, breitete sich auch die mutierte, ansteckendere Variante aus. Anfang Dezember zählten die Iren weniger als 50 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner, zuletzt mehr als 900.
Warnung vor explodierenden Zahlen
Merkel soll Ähnliches für Deutschland vorausgesagt haben, falls die Republik zu früh lockert und nicht beherzt eingreift. Der Sieben-Tage-Inzidenzwert, zurzeit mit 164 gleich hoch wie jener in Österreich (163), könnte sich bis Ostern verzehnfachen. Die Kanzlerin warnt somit vor deutlich mehr als 1000 Infektionen pro 100.000 Einwohner und binnen einer Woche. Also noch acht bis zehn Wochen harter Lockdown? Die Zeit der Entbehrungen würde sich bis tief in den März, bis kurz vor Ostern (4. April) ziehen. Deutschland hatte die harten Einschränkungen erst kürzlich bis Ende Jänner verlängert. Ob Merkel tatsächlich ein harter Lockdown im Februar und März vorschwebt, ist ungewiss. Die Botschaft lautet aber mindestens, dass es über den Jänner hinaus ungemütlich bleibt.
Seuchenschutz ist großteils Bundesländersache. Aber Merkels Wort hat Gewicht. Vielleicht noch mehr als zu Beginn der Krise. „Die Kanzlerin hatte recht und ich hatte unrecht“, räumte der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow in seltener Reumütigkeit ein. Er spielte auf Merkels Warnungen im Herbst an. Ramelow hatte damals Zweifel.
Auch in den Reihen der SPD gibt es Rufe nach Verschärfungen. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, ein Epidemiologe, stößt wegen der Mutation eine Debatte darüber an, Firmen jenseits von Gastronomie und Handel zu verriegeln. „Wir haben uns bei dem, was wir gemacht haben, sehr stark auf das Private und die Schulen konzentriert. Wenn das nicht reicht, dann müssen wir tatsächlich auch an die Betriebe herangehen.“
Längst findet ein Wettlauf statt. Zwischen den Impfungen und B.1.1.7. Es geht aber auch darum, die ansteckendere Variante rasch aufzuspüren. Gesundheitsminister Jens Spahn will Laboren anordnen, künf
Wir brauchen noch acht bis zehn Wochen harte Maßnahmen.
Angela Merkel laut „Bild“. Es gibt auch eine zweite, ähnliche Version des Zitats.
tig deutlich öfter die genaue Variante des Covid-19-Virus zu entschlüsseln. Jede zwanzigste positive Probe soll daraufhin untersucht werden (bisher: nur eine von 900).
Bayerns Ministerpräsident, Markus Söder, der meist die schärfsten Maßnahmen fordert, brachte parallel eine Impfpflicht für Berufsrisikogruppen ins Spiel, weil unter Pflegern die Impfbereitschaft verhalten scheint. Der Ethikrat solle Vorschläge unterbreiten. Söders Vorstoß sorgte für Kopfschütteln, und zwar auch in Teilen der Bundesregierung. Tenor: kontraproduktiv.
Neue Cluster in Wien und Tirol
Nicht nur in Deutschland, auch in Österreich (siehe auch Seite 3) breitet sich die britische Variante aus. Nachdem sie bereits Anfang Jänner bei vier Personen, darunter drei Kindern, am Flughafen Wien nachgewiesen worden war, identifizierten sie die Behörden am Dienstag auch in Proben von Bewohnern eines Wiener Seniorenheims. Dort hatten sich in den vergangenen Tagen 42 der 101 betreuten Personen infiziert, daraufhin ließ die Heimleitung einige Abstriche untersuchen. Ob es sich in allen 42 Fällen um die britische Variante des Coronavirus handelt, ist noch unklar. In dem betroffenen Haus, einer städtischen Einrichtung, wurde jedenfalls ein Besuchs- und Aufnahmestopp verhängt. Die meisten Bewohner weisen im Übrigen keine oder sehr milde Symptome auf.
Auch in der Tiroler Gemeinde Jochberg (Bezirk Kitzbühel) wird seit Dienstag von mindestens 17 Fällen ausgegangen. Das ergab eine erste Prüfung. Ein endgültiges Ergebnis soll in ein paar Tagen folgen. Laut dem Land handelt es sich bei den Infizierten um Personen unterschiedlicher Herkunft – zum Großteil britische Staatsbürger, die sich wegen einer Skilehrerausbildung in Tirol aufhalten. Die letzten reisten am 18. Dezember an. Skiunterricht fand seither keiner statt, damit bestand auch kein Kontakt zu Schülern, sagt Elmar Rizzoli, Leiter des Einsatzstabes des Landes. Am 22. Dezember hatte Österreich ein Landeverbot für Flugzeuge aus Großbritannien verhängt.
Die Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel veranlasste jedenfalls die Testung aller Skilehrer in drei Personalunterkünften. Auch die rund 1500 Einwohner Jochbergs wurden aufgerufen, sich testen zu lassen. Parallel dazu läuft die Ermittlung von Kontaktpersonen der Infizierten.