Mutation: Cluster in Tirol und Wien
Pandemie. In Kitzbühel könnten sich 17 Personen mit dem mutierten Virus angesteckt haben, auch in einem Seniorenheim in Wien wurde die britische Variante identifiziert.
Wien. Die im September erstmals in Großbritannien nachgewiesene Virusvariante B.1.1.7 wurde am Dienstag in einem Wiener Seniorenheim identifiziert. In den vergangenen Tagen steckten sich 42 der 101 Bewohner an, weswegen die zuständige Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) einige Proben auf die Mutationen untersuchte. Ob sich alle mit der britischen Variante infiziert haben, ist noch unklar. In dem Heim wurde ein Besuchs- und Aufnahmestopp verhängt.
Auch in der Tiroler Gemeinde Jochberg (Bezirk Kitzbühel) gehen die Behörden von 17 neuen Fällen aus. Das ergab eine erste Prüfung der Proben von Infizierten am Dienstag, das endgültige Ergebnis soll in ein paar Tagen vorliegen. Bei den Betroffenen handelt es sich zum Großteil um Briten, die sich seit 18. Dezember (erst ab 22. Dezember hatte Österreich ein Landeverbot für Flugzeuge aus Großbritannien verhängt) wegen einer Skilehrer-Ausbildung in Tirol aufhalten.
Um 50 bis 70 Prozent ansteckender
Das Land rief die 1500 Einwohner Jochbergs auf, sich testen zu lassen. Die Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel ordnete zudem die Testung aller Skilehrer in drei Unterkünften an. Parallel dazu hat auch das Contact Tracing begonnen, also die Ermittlung, Testung und gegebenenfalls Isolierung enger Kontaktpersonen. Bereits Anfang Jänner war das mutierte Virus am Flughafen Wien bei vier Personen festgestellt worden, drei von ihnen Kinder.
Schon seit Wochen wächst weltweit die Sorge, dass die Variante B.1.1.7, die zwar nicht zu schwereren Krankheitsverläufen führt, aber allem Anschein nach um 50 bis 70 Prozent ansteckender ist als die bisher zirkulierenden Varianten, zum dominierenden Stamm werden und erneut zu einem unkontrollierten Wachstum der Infektionen führen könnte. In Großbritannien und Dänemark ist das bereits der Fall – betroffen sind auch Schulen, was den Verdacht nährt, dass sich auch Kinder und Jugendliche leichter anstecken können.
So fand in England die Behörde für Öffentliche Gesundheit heraus, dass zuletzt 15 Prozent der engen Kontaktpersonen von Menschen, die mit B.1.1.7 infiziert waren, positiv auf das Virus getestet wurden. Bei Kontaktpersonen von Menschen mit Infektionen durch die ursprünglichen Varianten war das nur bei zehn Prozent der Fall. In Dänemark ist ihr Anteil an den untersuchten Virusproben binnen drei Wochen von 0,2 auf 2,3 Prozent gestiegen. Konkret: Innerhalb eines Monats kann die neue Variante zu acht Mal mehr Infizierten führen als bisher zirkulierende Varianten.
Nun wird nicht ganz ausgeschlossen, dass auch äußere Faktoren wie etwa die niedrigeren Temperaturen und Clusterbildungen durch Familienzusammenkünfte zu Weihnachten zur Ausbreitung beigetragen haben, aber vieles deutet darauf hin, dass die Variante selbst hauptverantwortlich für die starke Ausbreitung ist, sagt Andreas Bergthaler vom Zentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Akademie der Wissenschaften in Wien.
Das kann im Wesentlichen zwei Ursachen haben; zum einen die nicht weniger als acht Mutationen auf dem Spike-Protein. Mit diesem Protein auf seiner Oberfläche heftet sich das Virus (nach dem SchlüsselSchloss-Prinzip) an die ACE2-Rezeptoren, die sich auf Zellen entlang der Atemwege befinden, und dringt in diese ein. Die Mutationen dürften das Protein insofern verändert haben, als das Virus noch leichter an die Rezeptoren andocken kann. Je mehr Viren andocken, desto mehr dringen ein und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Das dürfte manchen Experten zufolge auch der Grund dafür sein, warum sich Kinder und Jugendliche häufiger mit dieser Variante anstecken. Sie verfügen nämlich über weniger ACE2-Rezeptoren, was grundsätzlich ein Vorteil ist und sie vor Infektionen schützt. Durch die Mutationen am Spike-Protein scheint dieser Vorteil aber geringer geworden zu sein.
Beim zweiten möglichen Grund lautet die Theorie, dass sich die neue Variante nach der Infektion schneller vermehrt und die Viruslast im Nasen-Rachen-Raum daher höher ist, was wiederum die Ansteckungsfähigkeit steigert – schließlich werden dann beim Reden, Husten und Niesen mehr Viren ausgestoßen. Weitere Ursachen für die raschere Vermehrung könnten laut Bergthaler auch in der Immunantwort liegen. Diese Annahmen seien aber nach wie vor Gegenstand der Forschung.
Strengere Maßnahmen erforderlich
Unabhängig von der Ursache für die höhere Infektiosität der neuen Variante läuft es jedenfalls darauf hinaus, dass die bisherigen Maßnahmen zur Kontaktreduktion nicht ausreichen werden, sagt Bergthaler. Denn: Lautete das Ziel bisher, die Reproduktionsrate, also die Zahl jener, die eine infizierte Person im Schnitt ansteckt, unter eins zu drücken, muss künftig versucht werden, sie zumindest unter 0,6 zu bekommen – etwa um jene Rate, um die das Virus ansteckender ist.
Mit welchen Maßnahmen das gelingen kann? „Hier stoßen Wissenschaft und Politik aufeinander“, sagt Bergthaler. „Das ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Einerseits können wir uns nicht sechs Monate lang einsperren oder mit Raumanzügen das Haus verlassen, andererseits dürfen wir das Infektionsgeschehen nicht ignorieren.“
Seiner Einschätzung nach ist es neben etwaiger zusätzlicher Maßnahmen vor allem notwendig, dass die bereits geltenden Regeln wie das Abstandhalten und Masketragen konsequenter eingehalten werden. Zudem sei es nun umso wichtiger, insbesondere ältere und vorerkrankte Menschen so schnell wie möglich zu impfen – denn auf die Wirksamkeit der Impfstoffe hat die Variante nach aktuellem Wissensstand keinen nennenswerten Einfluss.