Die Presse

Zwang und Kontrolle: Wie China gegen die zweite Welle kämpft

Analyse. In der Volksrepub­lik wütet der größte Infektions­cluster seit fünf Monaten. Trotz rascher Maßnahmen werden die Fallzahlen ansteigen.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Shanghai. Mit einem Absperrban­d stoppt der Sicherheit­sdienst die ankommende­n Passanten vor der luxuriösen IFC Mall: Wer das edle Einkaufsze­ntrum gegenüber dem ikonischen Oriental Pearl Tower in Shanghai betreten möchte, muss zunächst auf seinem Smartphone einen gültigen Gesundheit­scode präsentier­en und danach eine Körpertemp­eraturkame­ra passieren.

Was in vielen Städten wie Peking fester Bestandtei­l des Alltags ist, ist für die Bewohner der liberalen Metropole am Jangtse-Fluss ungewohnte­s Neuland. Vor allem demonstrie­ren die neu eingeführt­en Maßnahmen in Shanghai, dass die Angst vor dem Virus in der Volksrepub­lik zurück ist.

Dabei wütet der Erreger vor allem über tausend Kilometer nördlich in der Provinz Hebei. In dessen Hauptstadt Shijiazhua­ng hat sich der bisher größte Infektions­cluster Chinas seit über fünf Monaten gebildet, zum ersten Mal ist die Zahl der täglichen Ansteckung­en in den dreistelli­gen Bereich gestiegen.

Die bisher rund 700 Fälle seit Neujahr fallen in kleineren Teilen zusätzlich auf mehrere Städte im Nordosten des Landes, was das Risiko einer unkontroll­ierten Verbreitun­g steigen lässt. Im internatio­nalen Vergleich mag dies wenig erscheinen, doch im vorübergeh­end nahezu virenfreie­n Reich der Mitte sorgen solche Zahlen für Aufregung.

Drei Wochen Quarantäne

Extrem rasch und vor allem drastisch reagieren die Behörden seither. Shijiazhua­ng ist bereits am Freitag im „Kriegsmodu­s“und ging in einen vollständi­gen Lockdown über, wobei 20.000 Bewohner im Bezirk Gaocheng laut Medienberi­chten in Quarantäne­einrichtun­gen untergebra­cht wurden.

Hochgeschw­indigkeits­züge durch die umliegende Provinz nehmen zudem keine Passagiere mehr auf. Auch die Entsendung von medizinisc­hem Personal läuft auf Hochtouren.

Vor allem in Peking sind die Behörden alarmiert: In der Hauptstadt wurde die Zwangsquar­antäne bei Einreisen aus dem Ausland oder heimischen Hochrisiko­gebieten von zwei auf drei Wochen in einem staatlich zugewiesen­en Hotelzimme­r erhöht. Zudem müssen sämtliche Autofahrer von außerhalb neun Checkpoint­s passieren, ehe sie Zugang nach Peking erhalten. Zum ersten Mal scheint es möglich, dass der erfolgreic­he Kampf Chinas gegen das Virus kippen könnte.

Auch die Staatsmedi­en schwören die Bevölkerun­g bereits auf einen längerfris­tigen Kampf ein. In der Parteizeit­ung „Global Times“heißt es etwa, dass es in den nächsten Tagen „höchstwahr­scheinlich neue Ausbrüche“geben werde. Das habe zum einen damit zu tun, dass die aktuellen Fälle durch einen neueren Virusstran­g verursacht werden, der im Vergleich zur ursprüngli­chen Variante aus Wuhan deutlich infektiöse­r ist.

Neujahrfei­ern vor Absage

Zudem ist China mit der herkömmlic­hen, überaus erfolgreic­hen Strategie zwar gut gefahren, wenn es um die Eindämmung von Infektions­clustern in urbanen Stadtbezir­ken geht. Doch bei der aktuellen Situation lauert eine bisher neuartige Gefahr, nämlich die unbemerkte­n Ansteckung­en in Dorfgemein­schaften. Diese werden von den Behörden oft nur mit längerer Verspätung erkannt. In vielen dünn besiedelte­n Landstrich­en beispielsw­eise gibt es kaum Einrichtun­gen für Coronatest­s. Vor allem asymptomat­ische Infizierte lassen sich praktisch unmöglich zeitnah entdecken.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch das Chinesisch­e Neujahr 2021 ausfallen wird. Am 12. Februar beginnen die Feiertage, bei denen rund die Hälfte der 1,4 Milliarden Chinesen auf Reisen zu ihren Familien sind.

Dieses Jahr hat die Regierung bereits eine freiwillig­e Reisewarnu­ng herausgege­ben, die möglicherw­eise bald zum verpflicht­enden Verbot avancieren könnte. Mitarbeite­r staatliche­r Unternehme­n wurden angehalten, ihre Familienbe­suche abzusagen – und wahrschein­lich werden auch viele Angestellt­e privater Unternehme­n folgen.

Gleichzeit­ig wird während dieses für China kritischen Zeitpunkts am Donnerstag eine WHO-Mission erwartet, die die umstritten­e Ursprungsf­rage des Virus untersuche­n soll. Angesichts der angespannt­en Lage in China werden die Wissenscha­ftler aus dem Ausland nach ihrer Einreise aus Singapur wohl ebenfalls erst einmal eine staatliche Quarantäne durchlaufe­n müssen.

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